Dienstag, 28. September 2010

DIE REUDNITZER UNRUHEN - EINE AUSSTELLUNG

Die Reudnitzer Unruhen

Ein finsteres Kapitel vergessener Geschichte

Am 17. Januar 1977 kam es in Reudnitz, einem Stadtteil im Leipziger Osten, in den frühen Abendstunden zu Unruhen. Teile der Bevölkerung bekundeten damals spontan ihren Unmut über die herrschenden Verhältnisse.

Bei der Auflösung der kleinen Demonstration durch die Sicherheitskräfte der Volkspolizei soll es dabei mehrere Verletzte gegeben haben sowie möglicherweise zwei Todesfälle.

Eine Geschichte der Vertuschung

Die als „Reudnitzer Unruhen“ bezeichneten Vorfälle waren über Jahre hinweg völlig vergessen. Hauptverantwortlich dafür ist die Informationspolitik der damaligen Regierung der DDR. Das Interesse der Mächtigen bestand darin, die Spuren des Geschehens so zu verwischen, dass es für die damalige Bevölkerung und die Nachwelt nicht mehr möglich ist, die Vorfälle zu rekonstruieren bzw. zu beweisen. Akten wurden vernichtet, Spuren am Ort des Geschehens beseitigt, potenzielle Zeugen bedroht sowie materielle Zugeständnisse an die damalige Bevölkerung der Stadtteils gemacht.

Gründe für dieses Vorgehen dürften in der damals schon angeschlagenen Situation des Arbeiter- und Bauernstaates gelegen haben sowie dem angespannten Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander. Ob es durch das Bekanntwerden der Vorfälle einen „Flächenbrand“ in der Bevölkerung gegeben hätte oder nicht – dies ist aus heutiger Sicht nicht mehr eindeutig zu klären. Sicher aber ist, dass das Bekanntwerden den Graben zwischen Ost und West noch weiter vertieft hätte.

Das Schweigen der Reudnitzer Bevölkerung muss im Spiegel der Zeit angemessen betrachtet werden. Eine einfache Verurteilung ist in Hinblick auf die damaligen Verhältnisse jedenfalls unbotmäßig. Die repressive Stimmung in den folgenden Jahren sowie die stille Erinnerung an die Opfer der grausamen Gewalt dürften das Ihrige zum Vergessen beigetragen haben.

Nicht erklärt werden kann dagegen das Anhalten des Schweigens über die Zeit der Wende hinaus. Die Erklärung des Historikers Prof. Dr. Ernst Müller-Staudler, man habe nach 1990 befürchtet, dass Kreise der Staatsicherheit auch nach Abwicklung der DDR im Untergrund weiter aktiv seien, muss jedenfalls mit Vorsicht betrachtet werden und reicht in jedem Fall nicht aus, das Verhalten der Bevölkerung in ausreichendem Maße zu erklären.

Fund und Beginn der Aufarbeitung

Im Jahre 1997 fand der Historiker Dr. Günther Mensurian bei der Sichtung des privaten Archivs der Reudnitzerin Helga Petzlak erste Hinweise, die gewaltsame Vorgänge im Leipziger Osten der Siebziger Jahre nahelegten. Bei der Befragung der alten Dame konnte Mensurian weitere Anhaltspunkte dafür bekommen, wenngleich Helga Petzlaks Erinnerungsvermögen nur gering war.


Bei den darauf folgenden Recherchen traf Dr. Mensurian bald auf Peter Körneff, einen ehemaligen Mitarbeiter des Leipziger Stadtarchivs in den Siebzigern und Achtzigern. Peter Körneff hatte im März 1977 Beweisstücke für die Unruhen gesammelt und unter falscher Beschriftung im damaligen Archiv eingelagert, um sie vor dem Verschwinden zu bewahren. Vor der Sprengung des damaligen Stadtarchivs am Tröndlinring im Jahr 1981 durch offizielle Stellen der Stadtverwaltung verschenkte Körneff die historisch bedeutsamsten Stücke an das Historische Heimatmuseum Grimma. Zur eigenen Sicherheit gab er an, es handele sich um Unikate sächsischen Handwerks. Durch diesen Trick Körneffs überdauerten die Gegenstände die turbulenten Zeiten unter falscher Beschriftung in den Vitrinen des Grimmaer Museums.


Im Jahre 1991 wandte sich Peter Körneff bereits an das Museum, um die Herkunft der Stücke richtigzustellen. Er wurde aber von der damaligen Leitung abgewiesen mit der Begründung, man lasse sich nicht „verarschen“ (so der Direktor in einem Brief an Körneff). Erst mit Hilfe der neuen Forschungsergebnisse Dr. Mensurians gelang es Körneff und dem Historiker 2002, die neue Leitung des Museums von der eigentlichen Bedeutung der Exponate zu überzeugen. Die Beschriftungen wurden geändert und die Exponate konnten von Dr. Mensurian eingehender untersucht werden. Eine Entschuldigung bei Peter Körneff lehnte die neue Museumsleitung allerdings ab mit der Begründung, es könne keine Kollektivschuld der Leitung gültig gemacht werden.

Nach einer ersten Präsentation seiner Ergebnisse in einer lokalen Zeitung meldeten sich 2003 einige Reudnitzer Bürger bei Dr. Günther Mensurian. Teilweise meinten sich diese an die Unruhen erinnern zu können. Andere hatten weitere Stücke in ihrem Privatbesitz, die von den Unruhen zeugen, und die daraufhin von Dr. Mensurian genauer untersucht werden konnten.

Gewisse Probleme ergab allerdings die Befragung der Zeugen: Viele konnten sich nur schlecht erinnern, manche erinnerten sich falsch. Zwei Zeugen konnte Mensurian durch gründliche Recherche gar nachweisen, dass sie gar nichts von den Unruhen wissen konnten, da sie zu dem Zeitpunkt 1977 noch gar nicht in Reudnitz gelebt hatten, sondern in Schleußig und Gohlis. Durch eine umfassende Abgleichung der Fakten konnte der Historiker trotz der schwierigen Quellenlage nach und nach ein genaueres Bild der historischen Vorfälle zusammensetzen.

So konnte Mensurian herausfinden, dass bei den Unruhen vermutlich nur eine kleinere Gruppe von Menschen zugegen gewesen sein kann. Außerdem müssen die Sichtverhältnisse auf die Unruhen von den umliegenden Häusern sehr schlecht gewesen sei, was zwar auch daran gelegen habe, dass es im Januar früh dunkel werde, andererseits könne der Sachverhalt aber auch über Ort und Ablauf der Unruhen in einem engen Rahmen genauere Auskunft geben.

2007 stellte Dr. Mensurian erstmals eine kleine Ausstellung über die „Reudnitzer Unruhen“ zusammen, die im Historischen Heimatmuseum Grimma gezeigt wurde und von Jessica Dörbe vom Heimatmuseum betreut wurde. Dadurch wurden die Vorfälle und ihre Belege erstmals wieder einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Der Grundstein für eine weitere Aufarbeitung der schrecklichen Vorfälle im Januar 1977 war gelegt .

Rückblickend in die Zukunft

Lange Jahre waren die Reudnitzer Unruhen vergessen. Die Forschung konzentrierte sich fast ausschließlich um die Aufarbeitung der Vorfälle um die Leipziger Montagsdemonstrationen 1989. Was aber zwölf Jahre zuvor ebenfalls an einem Montag geschehen war, wurde vergessen und verdrängt.

Dem Engagement Dr. Günther Mensurians verdanken wir, dass ein trauriges Kapitel deutscher Geschichte vor der Dunkelheit des ewigen Vergessens bewahrt wurde. Ebenfalls großer Dank gebührt dem ehemaligen Mitarbeiter des Leipziger Stadtarchivs, Peter Körneff, der durch seinen selbstlosen Einsatz die Beweisstücke vor dem endgültigen Verschwinden bewahrt hat. Ohne Dr. Mensurian und Peter Körneff wäre diese Ausstellung heute nicht möglich.

Es erscheint notwendig, die Geschichte der DDR und somit auch die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert unter den gewonnenen Erkenntnissen neu zu betrachten. Einerseits, um Gewissheit darüber zu erlangen, was für ein Unrechtsstaat die DDR tatsächlich war, andererseits, um den Opfern des grausamen Verbrechens des Jahres 1977 zu gedenken. Die Erinnerung ist eine Pflicht, die wir für die Zukunft in uns tragen. Oder um es mit den Worten Dr. Günther Mensurians zu sagen: „Man kann die Gegenwart nur erkennen, wenn man die Vergangenheit genau betrachtet.“

Wolfram Lotz, Leipzig im Sommer 2010


Die Reudnitzer Unruhen – Vorgeschichte

Die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann

Der Liedermacher Wolf Biermann („Warte nicht auf beßre Zeiten“, „Frühling auf dem Mont Klamott“, „Comandante Che Guevara“) wurde am 16. November 1976 aus der DDR „ausgebürgert“. Nicht wenige Historiker bezeichnen dieses Ereignis heute als „Anfang vom Ende der DDR“.

Aufgrund der Zensur und der daraus resultierenden mangelnden Quellenlage kann ein Zusammenhang zwischen der Ausbürgerung Biermanns und den Reudnitzer Unruhen nicht endgültig bewiesen werden. Die zeitliche Nähe der beiden Geschehnisse (zwei Monate), die bekannten Auswirkungen der Ausbürgerung auf die Stimmung in der Bevölkerung insgesamt sowie die Inhalte der Liedtexte Biermanns legen nahe, dass die Ausbürgerung Biermanns aber zumindest als Auslöser der Unruhen betrachtet werden muss. „Die Ausbürgerung Biermanns ist heute nicht mehr ohne die Reudnitzer Unruhen zwei Monate danach denkbar“, schreibt der Historiker Dr. Günther Mensurian. „Wer heute diesen Zusammenhang leugnet, ist sich nicht der Komplexität sozialer und medialer Realitäten bewusst, der die Wissenschaft heute mehr denn je verpflichtet ist, besonders im Spiegel der Vergangenheit und angesichts der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.“

Das Kölner Konzert und die Ausbürgerung

1976 wurde Biermann von der IG Metall zu einer Konzertreise in die Bundesrepublik Deutschland eingeladen, wofür ihm die Behörden der DDR eine Reisegenehmigung erteilten. Das erste Konzert fand, vom Dritten Fernsehprogramm des WDR live übertragen, am 13. November in der Kölner Sporthalle statt. Dieses Konzert – Biermann hatte die DDR stellenweise kritisiert, bei anderen Anlässen wie etwa einer Diskussion über den 17. Juni aber auch verteidigt – diente dem Politbüro der SED als Vorwand für die Ausbürgerung „wegen grober Verletzung der staatsbürgerlichen Pflichten“, wie von ADN am 16. November verbreitet wurde. Nach der Ausbürgerung übernahm das ARD-Fernsehen das Konzert in voller Länge. Erst durch diese Übertragung – das Dritte Fernsehprogramm des WDR konnte in der DDR nicht empfangen werden – erfuhren viele Menschen in der DDR zum ersten Mal etwas über Biermanns Lieder.

Wirkung des Ereignisses auf die Bevölkerung

Die Ausbürgerung Biermanns war ein einschneidendes und prägendes Erlebnis für die Arbeiter- und Bauern-Szene der DDR. Gab es nach dem Machtantritt Erich Honeckers 1971 Hoffnung auf eine gesellschaftliche Liberalisierung und Ansätze von Meinungsfreiheit, wurden diese Hoffnungen durch das repressive Vorgehen 1976 wieder zerstört. Nicht wenige Arbeiter änderten ihre Haltung zur DDR nach der Ausbürgerung Biermanns von einer solidarischen Kritik hin zu radikaler Distanz zur DDR. Viele, auch sehr berühmte Personen in Ost und West, protestierten gegen Biermanns Ausbürgerung.

Die Vorwürfe gegen Biermann

2007 behauptete der Autor Florian Havemann, Sohn des 1982 verstorbenen Dissidenten Robert Havemann, kurz vor Biermanns Abreise aus der DDR zu der Tournee durch die Bundesrepublik im November 1976 habe die damalige Ostberliner Volksbildungsministerin Margot Honecker den Liedermacher in seiner Wohnung in der Berliner Chausseestraße 131 besucht, „um ihn davor zu warnen, die DDR zu verlassen, weil es dann schon beschlossene Sache sei, ihn dann, wenn er erst mal im Westen sei, auszubürgern“. Kurz vor seinem spektakulären Auftritt in Köln habe Biermann angegeben, „in dieser Nacht vor seiner Abreise in den Westen mit Margot Honecker im Bett gewesen, mit ihr geschlafen zu haben“. Biermann wies die Vorwürfe in einer Stellungnahme zurück und bezeichnete sie als „gequirlte Scheiße“.


Die Reudnitzer Unruhen – Zeitzeugen berichten


Man war damals schon sehr unzufrieden mit der Regierung. Man merkte ja, dass die Versprechungen, die einem gemacht wurden – es ging ja schon Jahre so – nicht eingehalten wurden, oder nicht eingehalten werden konnten, wie auch immer. Klar, eine gewisse Unzufriedenheit war in der Bevölkerung schon zu spüren. Dass es da auch mal kracht, das war schon möglich, das lag in der Luft.

Sylvia Wawrocki, 74, Hausfrau

Ich erinnere mich nicht genau an den Tag und daran, was ich da gemacht habe. Das war ja zu der Zeit, als unsere Kinder noch recht klein waren. Der Karsten muss da gerade eingeschult gewesen sein. Ich habe selbst die Unruhen nicht direkt mitbekommen, wir wohnten ja damals in der Reiskestraße, also ein Stück vom Ort des Geschehens entfernt. In den nächsten Tagen wurde da auch nicht darüber gesprochen. Aber ich meine mich erinnern zu können, dass die Angst, also die Angst, dass da noch was passieren könnte, allgegenwärtig war. Man konnte ja nicht einschätzen, was genau los war. Es hat ja niemand darüber gesprochen, aus Angst. Es wurde ja so getan, als sei nichts gewesen.

Eva-Maria Dorn, 59, Leitende Angestellte

Wirklich mit den System einverstanden war ja niemand, würde ich mal sagen. Ob das jetzt mit dem Biermann zusammenhing, oder ob das eine allgemeine Unzufriedenheit war, das ist jetzt, so in Hinblick auf die Vergangenheit, schwer zu sagen. Aber ich erinnere mich, dass wir 1977 noch immer auf unser Auto gewartet haben, das hatten wir 1971 bestellt. Das macht einen schon sauer. Als das Auto, ein cremefarbener Wartburg, dann kam, ein Jahr später, im März 78, war das dann doch eine Überraschung. Das kann schon sein, dass das dann plötzlich so schnell ging, weil die Regierung da vielleicht versucht hat, uns, also die Reudnitzer, auch zu besänftigen. Also Deeskalation, oder wie man das heute so sagt. An den Unruhen selbst war ich nicht beteiligt, habe sie auch nicht direkt mitbekommen.

Gerhard Heynig, 74, Rentner

Ich bin ein sehr friedlicher Mensch. Deshalb ist es für mich auch im Nachhinein klar, wieso ich nicht an den Ausschreitungen teilgenommen habe, und damit eigentlich auch gar nichts zu tun hatte. Ich habe ja damals, in den Siebzigern, doch noch fest an den Sozialismus geglaubt. Das heißt nicht, dass ich mit dem Zustand damals zufrieden war. Ganz und gar nicht. Aber insgesamt habe ich doch damals noch dran geglaubt. Mahatma Gandhi war da ein großes Vorbild von mir. Umso bedauerlicher ist deshalb, dass es wohl zu dieser Gewalt gekommen ist.

Paul Walther, 56, Key Account Manager

Man kannte ja den Biermann nicht bis dahin. Aber der war dann im Fernsehen zu sehen (also im Westfernsehen, das haben wir ja empfangen können), und das war schon auch schöne Musik. Ein bisschen lange Haare hatte der da, der Biermann, fand ich. Aber die Musik, das hat mir schon gefallen, so mit Gitarre. Das war ja für uns unverständlich, wieso der jetzt ausgebürgert wurde, wegen der Musik.

Rolf Mahlke, 81, Rentner

Die Situation war ja damals noch anders. Wie die Häuser da aussahen, da macht man sich kein Bild mehr von. Sicherlich ist auch heute noch das eine oder andere Haus im schlechten Zustand, aber das ist kein Vergleich. Alle Häuser sahen ganz braun oder grau aus. Unser Haus zum Beispiel. Das ist heute gelb, das sieht ganz anders aus. Und da waren früher auch noch die alten Fenster drin, die waren ja undicht, und gerade im Winter zog es da natürlich auch rein. Heute sind ja auch neue Fenster drin, also solche mit einem Plastikgriff.

Irmgard Roguczewski, 69, Hausfrau

In den Achtzigern herrschte ein merkwürdiges Klima. Das kann auch mit den Unruhen zu tun haben, dass die zuvor waren, das kann schon sein. Danach hatten wir das Gefühl, dass die Mauer noch ewig bestehen würde. Als dann der Kohl dafür gesorgt hat, dass die Mauer aufgeht, da war das eine große Überraschung. Das hatte ja niemand zu hoffen gewagt. Auf einmal konnte man in den Laden gehen und dort richtig einkaufen.

Hans-Peter Köhler, 47, KFZ-Mechaniker

Ich gebe zu, dass mir die Bedeutung der Unruhen auch heute noch unklar ist, habe sie auch ehrlich gesagt völlig vergessen, und erst jetzt, wo Sie davon sprechen, meine ich mich wieder daran zu erinnern. Ja, das kann schon sein, diese Krawalle, ich habe sie jetzt nicht vor Augen, aber ja, man war ja auch nicht bereit, alles hinzunehmen. Man hatte ja auch ab und zu eine Wut.

Dr. Martin Sobotka, 53, Privatdozent

Das Schlimme war ja, das alles vertuscht worden ist. Es hat ja niemand was davon mitbekommen.

Margot Lörke-Seydewitz, 69, Lehrerin

Wenn ich mich richtig erinnere, wurde ein Bekannter von mir, also kein Bekannter in dem Sinn, sondern ein Bekannter von Freunden, bzw. von jemandem, den mein Schwager von der Arbeit kannte, damals verletzt, wahrscheinlich von der Volkspolizei. Die Vopos waren ja nicht zimperlich.

Ilse Tellkamp, Rentnerin, 77


Die Reudnitzer Unruhen – Orte des Geschehens

Plätze als Zeugen der historischen Wirklichkeit










Die Reudnitzer Unruhen – Die Exponate

Ein stummes Zeugnis der Vergangenheit

Das Fehlen schriftlicher Überlieferung erschwert die Erforschung und die Erinnerung an die Niederschlagung der Reudnitzer Unruhen, die im Januar 1977 den Stadtteil im Leipziger Osten erschütterten. Um so wichtiger sind die Fundstücke und Überreste der Ausschreitungen. Können sie nicht erzählen, wie es war, so legen sie doch auf ihre ganz eigene, stumme Art, ein beredtes Zeugnis der Ereignisse ab. Sie stehen dafür ein, dass dieses Verbrechen stattgefunden hat, und sie sind Grundlage unserer Erinnerung daran.

Dass die meisten der Ausstellungsstücke überhaupt erhalten sind, verdanken wir Peter Körneff, der sie sammelte und vor der Sprengung des damaligen Leipziger Stadtarchivs 1981 unter dem Vorwand, es handele sich um Unikate sächsischer Handwerkskunst, an das Historische Heimatmuseum Grimma verschenkte, um sie so vor der Vernichtung durch Organe des repressiven Staates zu beschützen.

Die Ausstellung über die Reudnitzer Unruhen wäre ohne bestimmte Stücke aus dieser Sammlung nicht denkbar. Das Herzstück und wohl das beklemmendste Exponat, der „Unterschriftenordner Findeisen“, stammt aus dieser Sammlung. Der Inhalt des Ordners ist fort, oder es hat ihn nie gegeben, und somit scheint es, als wäre er eine Metapher für die Erinnerung: Sie ist leer, wir müssen sie immer wieder von Neuem füllen – Erinnern als aktiver Vorgang, als Pflicht eines aufgeklärten Staatsbürgers.

Zugleich zeugt die Abwesenheit der Unterschriften in dem Ordner auf anrührende Weise von den Opfern und ihrem Verschwinden aus der Erinnerung.

Ein weiteres wichtiges Stück ist zweifelsohne die unleserlich beschriftete Streichholzschachtel. Es ist Jessica Dörbe, einer Mitarbeiterin des Historischen Heimatmuseums Grimma, zu verdanken, dass dieses Exponat sich heute noch in einem so guten Zustand befindet. Stark angegriffen vom Winter 1977 konnte es im Stadtarchiv nicht sachgerecht gelagert werden. Peter Körneff verzichtete damals auf eine Restauration des Stücks, um nicht die Aufmerksamkeit seiner Kollegen auf die Stücke zu lenken, die er unter falscher Beschriftung eingelagert hatte. Jessica Dörbe nahm sich 2005 des Stücks an und restaurierte es außerhalb ihrer eigentlichen Arbeitszeit. Auch verdanken wir ihr das schnelle und unbürokratische Zustandekommen dieser Ausstellung.

Andere Exponate dieser Ausstellung stammen aus dem Privatbesitz der Reudnitzer Bevölkerung. Dr. Günther Mensurian stieß bei seinen Nachforschungen auf die Stücke, untersuchte sie und reinigte sie, um nun einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nicht unwesentlich sind auch die Stücke aus dem Archiv für Geschichte und Gegenwart Leipzig. Dafür danken wir dem Leiter des Archivs, Prof. Dr. Hans Kleinert, herzlich. Dank gilt auch dem Gartenbaumuseum Schkeuditz, in dessen Besitz sich unter anderem die „Tetzlaf-Klemme“ befindet, ebenso wie dem neuen Stadtarchiv Leipzig.

Zu danken ist zudem den Reudnitzern, die für Dr. Mensurian ihre Privatarchive öffneten und die Gegenstände für diese Ausstellung gaben. Damit setzen sie in besonderem Maße ein Zeichen gegen das Vergessen der schrecklichen Vorfälle in diesem Stadtteil und geben uns die Hoffnung, dass sich ein so finsteres Kapitel der deutschen Geschichte in der Zukunft nicht wiederholen werde.

Mit freundlicher Unterstützung der Stiftung für Zeitgeschichte und Integration des Landes Baden-Württemberg






Die Ausstellung in der Galerie Tipi - Einige Exponate

Drei Schräubchen und winzige Mutter

Großer Plastiklöffel

Tetzlaf-Klemme (verstellbar)

Blechdose (rostig)

Kabel (blau, beidseitig gesteckert)

Schieferplättchen

Schraubverschluss (plattgetreten)

Historische Walnuss


Eckholz einer grünen Obstkiste (zerbrochen)

Reflektorsplitter

Rispenschalenflügel

Mechanische Vorrichtung

Große Holzbrille

Schubladenhandgriff (Metall, rostig)


Metallfölse

Stützstrumpfklemme (hautfarben)

Fauliges Ästlein

Sonntag, 26. September 2010

KASPERL.
Oma, wie bin ich nur zu dem geworden, was ich heute bin?

OMA.
Kasperl, du bist aus einer anderen Welt, das lass dir von deiner alten Oma sagen, du bist aus einer ganz anderen Welt in diese Welt gezerrt und gezogen worden; du bist ohne Eltern geboren und einfach hierher gekommen, aus Holz und Stoff hierhergekommen; eine Hand, die in dir herumgräbt und dich nach außen hin bewegt; man hat dich immer schon überall gekannt und deine Umtriebe verboten, es hatte nichts geholfen; erst als man dir das Messer nahm und dir die Axt nahm und dir das Flämmchen nahm, das du immer bei dir trugst; und erst als man dich dann für gut erklärte, bist du zu dem geworden, der du heute bist. (...) Man hatte Aufgaben für dich, und ließ dich das Gute tun und das Gute verkünden, du warst wirklich gut geworden, obwohl du immer noch der alte Kasper warst, der selbe alte Stoffkasper und Holzkasper. Bald wirst du der sein, der du schon immer warst, aus Holz und Stoff, aus einer anderen Welt hierhergezerrt und -gezogen, und was du früher getan hast und verbrochen, wird wiederkehren, obwohl man dich für gut hält, und du wirst es jetzt tun und sagen, dass es gut ist, Kasperl, dass lass dir von deiner alten Oma sagen, du wirst die schlimmen Dinge tun, die du früher getan hast, und du wirst sagen, dass sie gut sind, weil du gut bist, weil sie sagen, dass du gut bist, weil sie dir dein Messer, deine Axt, dein Flämmchen fortgenommen haben, das du immer bei dir trugst und gesagt haben, dass du gut bist.

(Hannes Becker - Die frühen Jahre)

Dienstag, 21. September 2010

Montag, 13. September 2010

Berlin ist erreicht.

Es hat sehr geregnet.

Der Marsch ist beendet.

Und was ist jetzt?

Freitag, 10. September 2010



ES IST NICHT MEHR WEIT, FREUNDE!



Zwischenbericht eines Gescheiterten


Ich habe es nicht mehr geschafft, weiterzumarschieren.


Die Natur ist nicht das, wofür sie wir halten. Sie ist genau das, wofür sie wir halten.


Die Vorüberfahrenden drehen die Köpfe und schauen uns an.


Am dritten Tag sprengten die Blasen ihr Gefängnis aus Hydrogel und verschmutzten meine Socken.


Der Himmel ist manchmal blau, mit Wolken darin. Mehr ist über ihn eigentlich nicht zu sagen.


Alsbald begannen wir, kräftig zu stinken.


Vermutlich auf Gleis 2 des Bahnhofs in Lutherstadt Wittenberg habe ich mein Mobiltelefon verloren.


Aylin Karadeniz trägt einen sehr kleinen Rucksack.


Wer im Zelt zu schnarchen beginnt, der schläft. Er hält die anderen wach und erntet ihren Zorn.


Unter dem Sternenzelt nur Grausamkeit und Feuchte. Hart ist der Erdboden dort, Kreuzspinnen sitzen auf ihm.


Beim alten Gastwirt Hanack in Mellnitz kamen wir zu spät zum Abendbrot.


Die große Angst davor, dass ein Insekt in den Körper eindringt, wenn man hockend in die Wiese scheißt.


Der Schmerz beim Gehen ist da, solange ich gehe.


Der See in Schönwölkau sei nur noch eine schlammige Brühe, in der man nicht mehr baden gehen sollte, sagten uns frühmorgens ein paar Angler.


Nachts umgibt uns die Kälte des Weltraums.


Mir geht es gut, im Moment, irgendwie.


Die Landschaft bei Wartenburg gleicht dem Antlitz des Nichts.


Wir warten unter den Bäumen, bis es aufhört, zu regnen. Es regnet unter den Bäumen.


Seppl bellt nicht.


Am Unbedeutendsten Punkt der Erde, inmitten der Dübener Heide, hatten sich Mücken eingefunden, Milliarden von Mücken.


Die Bewohner von Trebitz machen einigen von uns Angst.


Schokolade und Würste zum Frühstück.


Das Geräusch, wenn knapp neben mir ein Traktor vorbeifährt.


Judith Keller sagt, dass die Natur nicht mehr das sei, was sie einmal gewesen wäre.


In der Ausflugsgaststätte „Schöne Aussicht 1910“ wird ab 14 Uhr kein warmes Essen mehr serviert.


Die verlorenen Gruppenfotos auf dem verlorenen Mobiltelefon.


Eine drei Kilometer lange Straße bleibt, was sie ist, wenn man an ihrem Rand entlangläuft: Eine drei Kilometer lange Straße.


Diese furchtbaren Menschen am Leipziger Hauptbahnhof.


Zeckito®


Am vierten Tag waren unter den Pflastern, auf ihren bereits geöffneten Geschwistern, neue Blasen gewachsen, unerbittliche, weiße Schmerzbringer.


Roman Ehrlich sagte bei Bad Schmiedeberg, die kommende Regenwolke sei so groß wie das Feld vor uns.


Wenn die Sonne scheint, ist es eine kurze Freude, aber kein Trost.


Als kleiner Junge bin ich einmal von zuhause ausgerissen, um bei meinem Cousin die Trickfilmserie „He-Man“ zu schauen.


Die Überquerung der Elbe per Fähre kostet 50 Cent pro Person.


Der Schmerz kommt aus dem Erdboden, ich weiß es genau.


Hannes Becker zieht den Bollerwagen Klaus an den Rändern der Felder entlang.


Maisfelder, Maisfelder.


Frau Hanack weint, als sie vom Tod ihrer Tochter erzählt.


Im Kohlhaasenkrug zu Wellaune serviert man saisonbedingt Schnitzel mit Waldpilzen.


In den Wäldern rund um den Hügel Kuckuck gibt es keine Menschen mehr. Jedenfalls begegnet uns niemand.


Nach Abbau der Zelte ist das Gras an vier Stellen der Wiese platt. Dies hinterlassen wir und eine gelöschte Feuerstelle. So verändern wir die Landschaft, mehr können wir nicht tun.


Wolfram Lotz muss Feuerholz holen, ehe er sich ausruht. Nichts und niemand kann ihn davon abhalten.


Die Schmerzen verschwinden, wenn ich sitze. Einfach so.


Wir fragen nach dem Weg. Man gibt uns keine Antwort.


Donnerstag, 2. September 2010

Marsch, erster Tag

Lyrisches Grußwort von Felix Leu

Gerne würde ich auch gehen.

Aber eigentlich

Ist mir Brandenburg egal.

Mir ist auch Berlin egal.

Mir ist auch der Bussard egal

Der auf einem Zaun sitzt und kackt.

Mir ist auch der Zaun egal und das Kacken auch.

Mir sind die Schnecken egal

Die ihre silbrigen Spuren ziehen

Das Vorzelt hinauf.

Mir ist auch das Vorzelt egal

Und das Hauptzelt auch

Und auch, ob es überhaupt

Hauptzelt heißt.

Mir ist die Mark egal

Und die stinkenden Wälder

Der Campingkocher

Und die verschissenen Ravioli

In den erbärmlichen Blechtöpfen.

Mir sind die Naturschutzgebiete egal

Und die frische Luft erst recht.

Zur Hölle damit!

Ich würde gerne gehen, ja

doch doch.

Ach, mir ist doch alles egal.

Ich grüße Euch herzlich!

Rede zum Marsch von Wolfram Lotz

Brüder und Schwestern,

kürzlich träumte ich, ich stünde an der Bushaltestelle Leipzig / Holsteinstraße und es regnete Asche vom Himmel. Da trat ein kleines Tier aus dem Gesträuch hervor und sprach zu mir: „Lotz, höre, was ich dir zu sagen habe!

1. Die Natur ist eine Hütte mit brennendem Dach!

2. Die Sehnsucht ist größer als die Angst!

3. Nimm dein blutiges Herz und hau es allen auf den hohlen Kopf!“

Nachdem das kleine Tier dies gesprochen hatte, lief es die Holsteinstraße in Richtung Aldi / Postfiliale davon und ich erwachte aus dem Traum. Stunde um Stunde, Tag um Tag dachte ich über die Botschaften des kleinen Tiers nach.

Inzwischen habe ich aber etwas ganz anderes begriffen:

Wir müssen aufbrechen.

Es ist an uns, aufzubrechen.

Wir müssen fort von den Orten, an denen wir ja immer sind und immer sein werden.

Wir müssen durch die Landschaft gehen auf eine immer andere Art.

Wir müssen auf einen Ort zugehen, den es so nicht gibt.

Das ist unsere ewige Aufgabe.

Wir gehen in die Hauptstadt, wir gehen nach Berlin, aber dieses Berlin muss uns und unserer Sehnsucht weichen.

Seht meine dürren Beine an! Auf diesen werde ich gehen! Soll ich mich etwa fürchten?

Wir müssen keine Angst haben. Wir brechen doch auf, um alles in Grund und Boden zu scheitern! So werden wir auch Berlin in Grund und Boden scheitern!

Ja, die Welt will uns immer nur aufhalten: Sie hat uns den Tod in den Arsch gepflanzt und die Angst in die Herzen. Aber das interessiert uns nicht mehr. Wir wollen zu dem Ort, den es so nicht gibt! Also gehen wir dorthin.

Wir gehen durch die Landschaft bis sie reißt. Sie wird ja wohl reißen! Dann gehen wir durch diesen Riss hindurch. So wird’s wohl sein, denke ich mal. Darauf könnt ihr euch verlassen!

Ja, ich drohe der Welt. Ich drohe ihr mit meinen dürren Beinen, mit meinen Augen und Ohren! Ich drohe mit meinem Hund Seppl und mit meinen Katzen Samuel und Gesine, ich drohe mit meinen hässlichen Schuhen, ich drohe mit der lächerlichen Fahne des unmöglichen Theaters!

Wir gehen jetzt los.

Hoffnung und Zweifel sind nunmehr eins!

Alles, wirklich alles, was uns entgegensteht, kann uns mal kreuzweise!

Wir gehen auf unseren dürren Beinen an den Ort, an den wir uns sehnen, auch wenn es ihn gar nicht gibt.

Wolfram Lotz, Leipzig, 2. September 2010