Freitag, 9. November 2012


Ich sehe das graue Jackett des Schriftstellers Pierluigi Montalbán, und ich sehe, wie die langen Finger des Schriftstellers Pierluigi Montalbán einen weißen Fussel vom Stoff des grauen Jacketts zupfen. Das Theater „Abyssus“ ist zur Hälfte mit Passagieren gefüllt, die nach vorn zur Bühne blicken, wo der Schriftsteller Pierluigi Montalbán auf einem Hocker aus der Bar „Herrlichkeit der imperialen Landschaft“ sitzt, mit aufgeschlagenem Buch auf dem Schoß, und zurück ins Publikum schaut mit einem Ausdruck im Gesicht, als würde er die Welt nicht mehr verstehen. Ein Mitarbeiter der Reederei „Hargenau & Robertson“ erhebt sich von seinem Sitz in der ersten Reihe und spricht zu den Gästen, ich sehe ihn und seinen Mund von der Loge aus, wie er auf und zu und auf und zu geht. Dann setzt er sich wieder, die Leute applaudieren, der Schriftsteller Pierluigi Montalbán holt tief Luft und beginnt aus seinem Roman „Das Stellwerk“ zu lesen. Seine Stimme heult wie ein Sturm. Der Schriftsteller Pierluigi Montalbán liest einen komplizierten Abschnitt, der weder gut ausgearbeitete Figuren noch Naturbeschreibungen noch humorvolle Anekdoten enthält, ein einziger quälender Satz, der die Demokratie verteufelt, der westlichen Zivilisation mit dem Untergang droht, den Präsidenten und Ministern aller Republiken auf der Welt eine tödliche Krankheit wünscht, minutiös die optimale Hinrichtung von zwanzig Beamten erklärt, den Bau einer großen Fabrik beschreibt, die es ermöglicht, alle Bewohner der führenden Industrienationen zu Rotwurst zu verarbeiten, die Umgestaltung der Parlamente zu Elefantenhäusern oder Bordellen anregt und den gleichzeitigen Abschuss ausnahmslos aller Atomraketen fordert, um den Mond zu zerstören. Der Schriftsteller Pierluigi Montalbán klappt das Buch zu, hebt den Kopf und blinzelt in das Licht der Scheinwerfer hinein, kneift die Augen zusammen, als suche er jemandem in der Dunkelheit des Theaters, schwitzt und atmet schwer dabei. Das Publikum ist verärgert, einige Leute sind bereits gegangen, andere sind auf Krawall aus und fangen an, herumzuschreien. Der Schriftsteller Pierluigi Montalbán scheint kein Mensch zu sein, dem Abneigung nichts ausmacht. Er rutscht vom Hocker, hebt die Hände und will sich erklären, beendet aber seine Sätze nicht, verhaspelt sich und erzählt irgendetwas, das niemand versteht. Die Leute kochen und schlucken ihren Ärger hinunter, aber nur unter Vorbehalt, denn beim kleinsten Fehltritt dieses verrückten Schreiberlings werde man noch schlimmer als zuvor schimpfen und den ganzen Saal auseinandernehmen, ruft ein alter Mann und droht mit dem Zeigefinger. Der Schriftsteller Pierluigi Montalbán streckt den Rücken durch, greift sich mit der rechten Hand in den linken Ärmel seines grauen Jacketts und zieht den Zipfel eines blauen Tuchs hervor, zieht und zieht, das Tuch ist lang, sehr, sehr lang, und entfaltet sich wie ein Segel, in das der Wind hineinbläst, die ersten Leute klatschen und rufen „Bravo!“, der Schriftsteller Pierluigi Montalbán rupft immer schneller und schneller das Tuch aus seinem Jackett, die Leute im Parkett springen auf und greifen sich an die Köpfe, das Tuch bedeckt jetzt schon die gesamte Bühne, wirft Falten, bauscht sich auf, wogt über den Boden und schließlich verschwindet auch der Schriftsteller Pierluigi Montalbán darunter, die Leute schreien und trampeln, da blenden Scheinwerfer auf und erhellen den ganzen Saal, dass es in den Augen schmerzt, alles ist auf einen Schlag still, die Umrisse des Schriftstellers Pierluigi Montalbán stürzen in sich zusammen, die Wellen des Tuchs glätten sich, ruhig liegt es nun da, nichts befindet sich mehr darunter, die Leute klatschen und pfeifen und gehen hinaus, ich folge ihnen, wir schwanken vergnügt.       

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