Denkt an das Meer!
Im Jahr 1513 wird Appenzell –
Denkt an das Mee –
Im Jahr 1513 kam es zu prägen –
Aber denkt an da –
Einigu –
So wie es Adalbert Spichtig,
Dichter, Bauherr und Vorsitzender der Innerhoder Reedereiwirtschaftsordnung,
aber auch Gesandter im Jahr 1513 –
Im Jahr 1513 humpelte Adalbert
Spichtig Richtung –
In Richtung der gemeinen Orte
In Richtung Bern
In Richtung ZZZürich
In Richtung grossen Stoß
In Richtung Bockshorn
In Richtung Hut
In Richtung
springende Punkte
Oh, sie sprangen!
Aber in Gedanken ging er durch
das Meer.
Schwer gingen seine Beine.
Man sah ihn
so langsam gehen
wie nie zuvor.
Er ging
den Antrag fest unter dem Arm
durch das Tethysmeer.
Er setzte einen Fuss vor den
anderen im Tethysmeer.
Die Wasserdichte machte ihm zu
schaffen.
Er kam nur langsam vorwärts.
Er drängte sich nicht vor.
...
Schwere Fische kamen ihm
entgegen.
Es dünkte ihn, es wären immer
dieselben.
Waren es immer dieselben?
Überall Dasselbe –
Stunden im Meer
Im Meer gehend im Tethysmeer
stundenlang gehend
den gemeinen Orten zu
stundenlang gehend
fürchtete er sich
sich verirrt zu haben.
Im Innern
man sah es ihm nicht an
fühlte er aber
dies sei gut.
Er dachte:
alles sieht gleich aus,
ich wandere den gemeinen Orten
entgegen,
den Antrag unter dem Arm
im Tethysmeer.
„Es fiel mir, ich gestehe es, im
Nachhinein nicht leicht, zu erkennen,
wohin ich ging, ob ich
irgendwohin ging, so wie ich es vorhatte, oder ob
ich am selben Ort geblieben war.
Wie soll ich es in schöne Worte kleiden?
es drängte sich vieles gegen
mich. Das tethynische Meer drängte sich mir
entgegen in seiner ruhigen
Strenge...von der Art her beharrlich.
Unauffällig war sein Wille, mich weise zu
machen, mich, den Boten,
den verarmten Reedereibesitzer, mit dem Antrag unter
dem Arm.
Es sagte mir:
Denke nicht, Lumpenhund, es gäbe
einen Weg
vorbei am Horizont
denke nicht
diese Falten, die sich hier zum
Gebirge gebärden
hätten euch im Sinn.
Bemühe dich
Zack
bemühe dich
um den Horizont!
sprach das Meer
schrieb Adalbert Spichtig am 18.
Dezember 1513 in
sein Notizbuch und las den Text
laut vor auf dem Marktplatz.
Er kletterte hierzu auf den
Balken des Galgens.
Er sprach in den Jubel:
Wie ist die Aussicht?
Was habt ihr für eine Aussicht?
Die Menschen waren froh.
Sahen sie ihn? Konnte er
unauffällig sein?
Denn sein Schiffereibetrieb war
zerrüttet.
Längst war das Meer weg
was die Menschen freute.
In den zuvor mit Appenzell
abgeschlossenen Schutz- und Bündnisverträgen war
das Land als Bundesgenosse mittleren
Rechts behandelt worden.
Wer sagte das?
Irgendjemand, sehr laut.
Die Appenzeller
sassen auf dem Marktplatz.
Auf dem Boden lagen
warme Decken.
Würste wurden
zum heiteren Anlass
gereicht.
Käse schmolz
über unzähligen Feuern
gespenstisch stieg der Rauch
in den kalten Himmel.
Appenzell!
wurde gerufen
doch es war nicht Adalbert
Spichtigs Stimme.
Appenzell erhält in der Rangfolge
der vollberechtigten Orte den Platz 13 hinter Zürich, Bern, Luzern, Uri,
Schwyz, Unterwalden, Glarus, Zug, Basel, Freiburg, Solothurn und Schaffhausen.
Vergeblich hat das Sankt Galler Äbtli Franz Geissburg versucht, die Aufwertung
der ehemaligen Untertanen des Klosters zu verhindern.
Ja! rief Adalbert Spichtig, Ja
und? Ja und?
Wie ist eure Aussicht?
und stand schwankend auf dem
Balken.
Denkt an das Meer!
Denkt an das Meer, das
Tethysmeer.
Denkt an den Horizont!
Spichti, halts Maul!
Ende Januar dieses Jahres 1513
übergaben die Fraszosenlumpen die Schlösser von Lugano und Logarno an die
Schweizer. Alle Alpenpässe vom grossen Sankt Bernhard bis zum Stilfser Joch
sind nun in der Hand der Eidgenossen...
Welche Hand, welche Hand?
rief Adalbert Spichtig über die
Menge.
Ein anderer Mann nahm aus der
Hand einer Frau eine Wurst und rief:
Am sechsten Juni dieses Jahres
besiegten in der Schlacht von Novara die Schweizer die Trüppli der
Franzosenhosen und der Venezianer, die gemeint haben, ins Herzogtum Mailand
einfallen zu müssen. Die tapferen Schweizer zwangen die Franzosen zum
schnurstracksen Rückzug über die Alpen. Die Eidgenossenschaft steht auf dem
Höhepunkt ihrer Macht!
Adalbert Spichtig formte seine
Hände zum Trichter
Und rief: Mir sagte das Meer, mir
sagte das Meer:
Die Alpen gehören zum Tethysmeer!
Die Bildung der Alpen durch Druck
erzeugte Sedimentablagerungen!
Der Wechsel von Eiszeiten und
warmen Zwischeneiszeiten!
Mächtige, landschaftsverändernde
Kräfte!
Das Sinken der
Durchschnittstemperaturen!
Das Zunehmen der Niederschläge!
Das Auswachsen der Gletscher!
Das Vordringen der Gletscher in
das freiliegende Mittelland!
Kälteliebende Pflanzen und Tiere
folgten dem Eis oder zogen sich zurück, wenn die Winter milder, die Sommer
länger und wärmer wurden.
Der Pratteler Faustkeil zeugt
davon!
Mammut und Wollnashorn!
Währenddessen sprach der Mann mit
der Wurst:
Bei der Kampfesweise der
Eidgenossen in den Mailänderzügen bildet die Hauptmacht die Infanterie. Wir,
die baldigen Soldaten, vertrauen auf die unüberwindliche Macht unserer
festgefügten Karren und unserer Hauptwaffe, auf die gefürchteten Langspiesse,
mit denen die feindliche Schlachtreihe aufgebrochen werden muss, kann und soll. Im Nahkampf setzen
wir mit Vorliebe die Schwerter, die gefürchteten „Katzbalger“ und das
Seitenwehr, das „Ruggerli“ ein.
Warum? Wills nützt!
So ging es eine Weile weiter.
Dringend bleibt zu erwähnen, was
dann geschah.
Wie durch ein Wunder – es war
aber keines! – mussten sich in den folgenden Stunden die Blicke der Frauen an
den schmächtigen Körper Adalbert Spichtigs geheftet haben, und es darf davon
ausgegangen werden, dass sie gehört hatten, was er rief.
Wann? Am 18. Dezember 1513,
wahrscheinlich zwischen 16 und 19 Uhr.
Heute wollen wir feiern, was dann
geschah.
Die Appenzeller Frauen erhoben sich,
verjagten mit den Händen den Rauch und folgten Adalbert Spichtigs feinen Rufen.
Dieser forderte sie mit guten Argumenten auf, Häuser und Mäste zu erklimmen,
auf die Dächer der Heuscheunen, die Buchen, die Tannen, die Lärchen und
Weisstannen, die Ahornbäume, die Eschen und auf die anderen herumstehenden Bäume
sowie auf die Galgen der weiteren Umgebung zu klettern.
Behende gingen die Frauen alsbald
ans Werk, wenn man das so sagen will.
Und siehe da: nach weniger als
einer Stunde ward weit und breit keine Baumspitze mehr ohne Appenzellerin
gesehen. Da oben standen sie und wankten nicht.
Hat damals irgendjemand zu jener
Zeit nur eine einzige Kirchturmspitze, nur einen einzigen Kirchturm ohne
Appenzellerin gesehen?
Im Gegenteil, man konnte sich des
Eindrucks nicht erwehren, sie hätten vorher an diesen Stellen gefehlt, an denen
sie nun standen.
Auf keinem Heuschoberdach, auf keinem
Turmspitzchen, nicht auf dem Dach des Rathauses fehlten die Appenzellerinnen.
Es war, als hätten sie endlich zueinander gefunden: Die Baumspitzen und die
Frauen, die Dächer und die Frauen, die Turmspitzen und die Frauen, das Rathaus
und die Frauen.
Aus der so erlangten Höhe hielten
die Frauen Ausschau nach dem Horizont. Sie fanden ihn sofort. Später dann
berichteten sie davon den Männern, die ihre Mühe damit hatten. „Ich ha ä chli
Müeh“, sagten diese, wie nachgelesen werden kann.
Nie hat sich bis zur
Vollständigkeit geklärt, was die Frauen genau erblickten, als sie von ihren
jeweiligen Höhe aus schweigend in die Dämmerung geschaut hatten.
Den Horizont? Darf man das so einfach
glauben? War er es, und wie war das gemeint?
Vergessen wir nicht, dass noch in
den darauffolgenden Jahrhunderten vor allem Männer das Vergnügen gestattet
wurde, von Geschehnissen solcher Art für allfällige spätere Generationen zu
berichten, und dass dementsprechend verhältnismässig genügsam über das Ereignis
geschrieben wurde, das heute Anlass zum Fest bietet.
Davon ausgegangen werden kann,
dass die Frauen in der Nacht, die auf den 18. Dezember 1513 folgte, auf ein
geheimes Zeichen hin – was für eines? Musste es wirklich im Meer der Zeiten
verschwinden, hätte man es wirklich nicht vor der Vergessenheit retten können? –
die Häuser ihrer Männer verliessen.
Eine bisher in weiten Kreisen
verschwiegene, Jahrhunderte lang gar in einem tadellosen Landammannschuh
versteckte und erst im Jahr 1990 wiederentdeckte Quelle berichtet von schwer zu
beschreibenden, vielerlei, offenbar hunderten, seltsam geformten Gestalten, die
damals die tiefe und gebirgige Dunkelheit der Nacht verschwiegen in Bewegung
brachten. Der Verfasser jener Quelle erwähnt das ungemeine Gewicht, das er den
Schritten der Gestalten angehört habe. Der Boden sei fast unmerklich im Takt
der Schritte „erboben“.
Die Frauen trugen, dies ist heute
geklärt, auf ihren Rücken die überaus schweren und im übrigen schon damals
eigentlich unpraktischen Katzbalger und Ruggerli, die sie scheinbar wenige
Minuten zuvor wie selbstverständlich unter den Betten ihrer Männer
hervorgezogen und sie mit einem Ruck auf ihre Rücken geschwungen hatten.
Augenscheinlich hatten ihre
Männer, wie es die Tradition gebot, allesamt tief und fest geschlafen.
Im Schein von Mond und Sternen
müssen die Frauen im Folgenden ein gewaltiges Feuer entfacht – bis heute ziert
kein Erinnerungsstein diese Stelle – und die Ruggerli und Katzbalger zum
Schmelzen gebracht haben. Bald schienen diese als silbrigglänzende Flüsschen
durch die Wiese gelaufen zu sein.
Das würde man heute natürlich so
auch nicht mehr machen.
In den folgenden Stunden des 18.
oder bereits des 19. Dezembers 1513? – verschwanden die Frauen leise und
entschieden aus Appenzell. Verschiedene Tagebuchauszüge wütender, entsetzter
und trauriger Natur berichten multiperspektivisch von diesem Geschehen.
Die Appenzellerinnen kamen
frühestens drei Monate später zurück und auch dann nicht alle. Die, die
wiederkamen, trugen auf ihren Köpfen Gefässe von nie gesehener Vernunft und
Klarheit. Darin schaukelte Salzwasser hin und her.
Noch lange schliefen sie auf dem
Dach des Rathauses und hielten Ausschau.
Dann verschwanden sie für immer.
Einige hinterliessen Kinder, die
sich gerne an sie erinnerten.
Adalbert Spichtig war nach
besagter Nacht umsichtig und unauffällig aus Appenzell verschwunden.
Er hatte recht getan. Viele
wünschten ihm den Tod.
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