Mittwoch, 21. April 2010

Der Monolog des LdF (Leiter des Fortgangs)


Sie müssen wissen: Mit zwölf lag ich mal abends im Bett. Soweit ist das ja alles normal. Aber ich konnte an diesem Abend nicht einschlafen, und habe immer so in die Dunkelheit vor mich hin gestarrt. Irgendwann dachte ich: Das ist jetzt also jetzt. Und jetzt. Und jetzt. Und jetzt. Da habe ich eine unendliche Angst bekommen, vor dem Sterben und davor, dass ich verschwinden muss im Universum, so eine Angst habe ich da bekommen, als ich da lag und so dachte: Jetzt. Jetzt. Es war entsetzlich. Da wusste ich, dass ich mein Leben ändern muss, ganz grundlegend ändern, dass das nicht mehr vorkommen darf, dass so ein Augenblick nicht mehr vorkommen darf in meinem Leben. Da habe ich angefangen mit Sportaerobik, ich habe Golf gespielt und Indiaca, ich habe Wildwasserrafting gemacht, Breakdance und Blitzschach, Skateboarding, Minigolf, Windsurfen, Baumstammwerfen und Curling, ich habe Squash gemacht, Ponyreiten, Freeclimbing, Öl-Ringkampf und Pétanque, ich habe Taubenschießen, Wokrodeln, Wasserball gemacht, Downhill-Radfahren, Garde- und Schautanz, Stierkampf, Tipp Kick, Bogenschießen und Rhönradturnen. Ich war in Batikkursen, in einer Hardrock-Coverband, in einem Modellbauverein, bei einem freien Radio, in einem deutsch-türkischen Freundschaftsverein, ich war bei einer katholischen Jugendorganisation Kassenwart, bei einer evangelischen Singgruppe Schriftführer, bei der Jungen Union und bei den Jusos und bei den Julis, auf Freizeiten und Fortbildungen. Ich habe nach dem Abitur Kognitionswissenschaften studiert, ich habe Gebäudeklimatik studiert, Sprache und Kultur Tibets, Ökotrophologie, Iberoromanische Philologie, Verpackungsdesign und Aerospace Engineering habe ich studiert, Szenisches Schreiben an der Universität der Künste, Urban Management, Holz- und Kunststofftechnik, European Studies, Elementar- und Hortpädagogik, Bioprozesstechnik, Fagott, Wissenschaftsjournalismus sowie Psychology of Excellence in Business and Education (Letzteres auf Bachelor), das habe ich alles studiert, und ich war zudem Gasthörer im Studiengang Theoretischer Maschinenbau, bei Englisch auf Lehramt für Primarstufe, bei Arts an Media Administration, in Nanostrukturwissenschaften, Schiffsbetriebstechnik, ich war Gasthörer bei Kulturwissenschaften mit Fachschwerpunkt Geschichte, Raumplanung, Sorbisch und Lernmitteldesign. Ich habe Praktika absolviert bei EADS in Friedrichshafen, beim Berliner Stadtmagazin Zitty, bei der Snogard Computer GmbH, im Stadttheater Chemnitz, bei FuP Kommunikation, in einem Call-Center der Deutschen Bahn in Koblenz, in der Redaktion der Zeitschrift Neon, im Pflegeheim St. Vincenz in Bad Rippoldsau, bei der Firma Hermansdorfer Industriemotoren und Ersatzteilhandel, bei Kopp’s Coiffure in Davos, ich habe Praktika gemacht im Fahrradhaus Sauerborn und bei der Firma CeNano GmbH & Co. KG, in Milla’s Lebensmittellädchen und bei der BamS. Ich habe als Animateur in einem Robinsonclub auf Fuerteventura gejobbt, ich war Backpacking in Australien, Chile, im Sauerland und in Südfrankreich, ich habe Auslandssemester absolviert in Lima und Salzburg, ich hatte ein Auslandsstipendium des DAAD für Wyoming, ein Arbeitsstipendium von der Kulturstiftung Sachsen für Fahrradtechnologie, ich habe den Hattinger Förderpreis für Querflöte erhalten und die Untergrundliteraturzeitschrift ‚Serielle Tendenzen’ herausgegeben, ich habe ein Computerspiel programmiert, in dem man ein DJ ist und in einer Galaxie namens Ultrion Raubüberfälle organisiert, aber auch Geschlechtsverkehr hat, wobei man für Letzteres Wissensfragen beantworten muss, ich habe einen Kurzfilm gedreht mit dem Namen ‚Frau Müller ist allein’, in dem eine alte Frau in einer Berliner Altbauwohnung immer ihre studentischen Nachbarn darum bittet, für sie Kaffeebohnen einzukaufen, und dann am Ende stellt sich heraus, dass sie gar keinen Kaffee trinkt und das nur macht, um überhaupt mal mit jemandem reden zu können, ich habe alle Möbel in meiner Wohnung abgeschliffen und selbst gebeizt und bin mit ihnen 14 Mal umgezogen, ich habe bei der Apfelernte im Saarland geholfen, ich habe Wohnwägen und Jet-Skis im Internet gekauft und dann weiterverkauft, ich habe gebloggt und getwittert und gebloggt, ich habe Leichen plastiniert und Cherrytomaten gezüchtet, und ich kann sagen:
Ich habe es nicht bereut. Im Gegenteil.
So ein entsetzlicher Moment, wie ich ihn damals hatte, damals, als ich zwölf war, ist mir seitdem erspart geblieben. Nur abends beim Einschlafen noch habe ich bisweilen kurz die Angst, dass ich das, also mein Sein, wieder so empfinden könnte wie damals, aber ich höre dann, wie mein Computer leise in der Dunkelheit knistert und surrt, und es ist beruhigend für mich zu wissen, dass er gerade (und auch noch die ganze Nacht) irgendwelche Sachen kostenlos aus dem Internet downloaded. Es beruhigt mich und hilft mir beim Einschlafen.


Aus: Wolfram Lotz: Einige Nachrichten an das All - III. Eine Astronomie des Entsetzens

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