Es dauerte noch vier Jahre, bis Henny, der Cousin von Thomas und meinem Vater, Martha Linn Schoke kennenlernte und sie sich dann verliebten. Jetzt war das Jahr 1957. Er war einundzwanzig Jahre alt und ging in die Feinkostabteilung des Karstadt in Frankfurt am Main. Gut zehn Jahre danach würde dieses Kaufhaus verbrennen. Henny ging zu dem Obststand, der dort unter einem Dach aus Stroh aufgebaut war. Es wurden hier neben Orangen, Bananen (Gros Michel, damals noch, ganze Stauden), Sharonfrüchten und Papayas vor allem Kiwis als Delikatesse angeboten. „Ich möchte diese Kiwis kaufen, alle“, sagte Henny zu dem Verkäufer, „aber ich missbillige, dass Sie sie mir verkaufen.“ Der Verkäufer stand unter dem Dach aus Stroh, in seiner gestreiften Schürze und sah Henny an. „Verstehen Sie mich?“ fragte Henny. In seiner Hand trug er ein Paket mit Spielsachen: Raketen, Panzerfahrzeuge, kleine Soldaten mit winzigen, giftfarbenen Gewehren, wenn es damals schon so etwas gab. Im Augenwinkel eines der Soldaten, einem Sniper, den man sich liegend vorstellen muss, war mit Kunstharz eine kleine, blaue Träne angefügt. Der Verkäufer, ein Mann, Mitte 50, ihm fehlten keine Finger, er war nicht im Krieg gewesen, aber seine Frau ist als Sanitäterin auf der Krim getötet worden (ihr letzter Gedanke, bevor sie starb, warum kommt ihr der Nebel über den Wiesen, auf welche sie durch einen Spalt in der Zeltplane schaute, wie das Meer vor, warum aber waren dann die Vögel nicht wie Fische?), der Verkäufer schüttelte den Kopf und drehte sich halb nach hinten um. Er entschied sich offenbar für etwas und begann die Kiwis mit beiden Händen in eine hölzerne Bananenkiste zu häufen. Dann hielt er inne und schaute auf die halbvolle Kiste. „Wollen Sie wirklich alle?“ fragte er. „Ich möchte, dass Sie den Verkauf dieser Früchte beenden, bitte.“ Der Verkäufer schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Sie müssen hier ja nichts kaufen.“ „Die Kiwis schmecken mir aber sehr gut.“ Henny nickte, er schaute sich alles an, er war nervös und aufgeregt, aber man konnte es ihm glauben. „Deshalb will ich sie ja haben, weil es sie eben gibt.“ „Ja, sie sind sehr gut“, sagte der Verkäufer über die Kiwis. Er mochte sie selbst sehr gerne. Ein neuer Kunde kam hinzu (Schiebermütze wahrscheinlich, Kohle im Gesicht, aber die Delikatessen aus der Feinkostabteilung kaufte er für sich selber ein). „Das ist nicht Ihre Schuld“, sagte Henny. „Und ich weiß, Sie sind nicht der Inhaber dieses Geschäfts. Ich weiß, Sie sind nur angestellt?“ Der Verkäufer war ein ruhiger, lieber Mann. Er stritt nicht mit Henny, der das auch gar nicht von ihm wollte; er wollte ja nur, dass der Verkäufer aufhörte, hier diese Kiwis zu verkaufen. Stattdessen begann der Verkäufer den neuen Kunden zu bedienen. Henny wartete, bis er damit fertig war. „Entschuldigung“, sagte er dann etwas schüchtern. Der Verkäufer hob die Augenbrauen. Er dachte an seine Wohnung und dass er ein wenig müde war und an das Licht im Flur (eine Gaslampe). „Sie schmecken mir gar nicht“, sagte Henny, „die Kiwis.“ Der Verkäufer wartete. „Nicht?“ fragte er. „Nein.“ Henny wartete ab, aber seine Wort hatten nicht ins Schwarze getroffen, das war klar. „Aber das ist auch egal“, sagte er dann und erklärte sich weiter, weil er eben merkte, wie sehr das nötig war. „Ich bin ja nicht verantwortlich dafür, ob ich das, was ich kaufe oder nicht, mag oder nicht, oder was sonst ein Grund ist, sie zu kaufen oder nicht, oder ohne Grund, mein eigener Grund, dass sie mir schmecken oder nicht, oder ob ich sie kaufe oder nicht, dass ich es ablehne, dass sie verkauft werden oder nicht, ob auch das für mich ein Grund ist, sie zu kaufen oder nicht, das ändert an der Sache nichts.“ Er wartete ab, kaum Ungeduld in der Stimme, als er weitersprach. „An der Sache. Die Sache. Hier zum Beispiel, diese Sachen... Diese Früchte. Ich möchte“, sagte er, „das Sie wissen, dass Sie eine Verantwortung dafür tragen. Es nützt nichts, zu sagen, Sie sind hier nur angestellt. Es nützt nichts, zu sagen, dass Sie nur verkaufen, was man Ihnen sagt, weil die Kunden es wollen und weil die Inhaber das von Ihnen wollen. Nein, Sie sind ja... Und, bitte...“ Der Verkäufer sah ihn wieder an, das hatte er zwischendurch nicht getan. Vielleicht hatte er zugehört. Vielleicht hatte er nicht zugehört. Vielleicht hatte er, beim Zuhören oder nicht, an seine Wohnung gedacht und dass er müde war, etwas nur, etwas müde, nicht zu sehr, und an das Licht im Flur (die Lampe, die mit Gas betrieben wurde, gegen das er ein Streichholz hielt, am Abend). Oder nicht. „Ich bin nicht verantwortlich für das alles hier“, sagte Henny und zeigte mit dem Paket in der Hand auf die Ladenfläche ringsum und auch nach oben und unten, in Richtung der Stockwerke, die man nicht sah. „Wie sehr ich auch etwas kaufe oder nicht.“ Das alles würde also, gut zehn Jahre danach, verbrennen. Und trotzdem würde er noch in den 70er Jahren hier stehen und Anfang 1982 und dem Verkäufer alles erklären, dem Verkäufer, der unter dem Strohdach dastand, mit seiner gestreiften Schürze, mit seiner karierten Schürze, unter dem Strohdach, unter dem Dach aus Sparren, dem Dach aus Plastikpalmenwedeln, und ihn bitten, es zu beenden, weil das hier tatsächlich der Ort wäre, um es zu beenden, die Sache also, die Kiwi, den Verkauf. Nicht in China, nicht in Neuseeland, nicht in Europa oder Nordamerika, sondern hier in der Feinkostabteilung des Karstadt in Frankfurt am Main. Aber nicht da, wo Henny war, vor dem Stand, nein, dahinter, wo der Verkäufer war, dem er es erklärte, musste es beendet werden. Beenden Sie es, rief er ihm zu, er flüsterte es nur, schüchtern, selbstbewusst, eine eigenartige Mischung, aus der noch alles werden konnte. (Ich kann kaufen, was ich will, ich kann nicht kaufen, was ich will, ich kann es nicht beenden, ich kann sogar Waffen kaufen, ich bin nicht verantwortlich dafür! Es ist nicht meine Schuld. Aber es schmerzt mich so.) Er hatte noch Zeit, sein Leben zu beginnen, Zeit, Martha Linn Schoke zu begegnen, sie kennenzulernen. Sie saß im Garten, am Tisch neben meinem Vater, eine Freundin meiner Mutter. Sie begannen sich gleich über alles zu unterhalten, so schnell sie konnten, ohne Mühe, ohne eine äußere Belastung. Sie spürten nur einander und was sie dafür brauchten. Sie heirateten. 1982 dann, ging Henny hin und wies sich selber in eine psychiatrische Klinik ein. Er war nicht mit den Autoritäten Konflikt gekommen, es hatte ihn niemand dazu gezwungen, es war zu spät. Nicht für ihn, nicht für die Sache, er war ja noch bei Verstand, und es war noch immer nicht beendet worden. Aber er hatte etwas sehr Wichtiges begriffen: Zwar hatte er es zu jeder Zeit erklären können, all die Jahre zwischen 1957 und 1982, und hatte auch wirklich immer gewusst, wovon er sprach (er hatte recherchiert), und dass es falsch war, was hier getan, verkauft wurde, diese Früchte, Sachen - das war 1957 falsch gewesen und war es auch 1982. Aber 1982 war es zu spät geworden, zu spät, um es zu erklären. Er konnte es niemandem mehr erklären. Es war insgesamt für Erklärungen zu spät geworden. Das hatte er verstanden. Was er 1982 erklärte, führte dazu, dass der, dem er es erklärte, ihm sein Ohr verschloss. 1957 schaute er den Verkäufer an, er sprach zu ihm. Der Verkäufer schaute zurück. Vielleicht hatte er verstanden.
Henny starb dann nicht 1982 in der Klinik, wo ihn mein Vater und Thomas noch gemeinsam besuchten (ich stelle mir eine seltsame schiefe Terasse vor, eine abschüssige Betonplattform über einem dunklen, kleinen Bach und dass sie dort zusammen waren), sondern fünf Jahre später im bürgerlichen Leben (da hatte sich Martha Linn neu verheiratet und war schon in Brasilien), durch eine Karambolage. Es ist nicht seine Schuld gewesen.