Sonntag, 31. Januar 2010

Das Ende der Aufklärung

LEIPZIG. Mit erschreckend banalen Mitteln wurde die Aufklärung, so sie denn überhaupt existierte, zu einem grausigen Ende gebracht: Wir würden ja gern an diesem Essaywettbewerb teilnehmen und uns recht kluge Gedanken machen, schrieben die Leipziger Bachelorstudenten, wir merken allerdings, dass wir an nichts anderes mehr denken können als an unsere ECTS-Points. Die Organisatoren des besagten Essaywettbewerbs verlängerten daraufhin erst die Abgabefrist, später löschten sie die Ausschreibung ganz von ihrer Homepage. Aus Sicht der Studenten war das ein freundliches Entgegenkommen, aus Sicht der Aufklärung war's der Gnadenschuss.





Ich bin verloren in der Kälte des Internets. Könnt Ihr diese Kälte nicht spüren? Könnt Ihr es denn nicht spüren? Es friert uns die Herzen ein. Wir sind hier verloren! Ich bin hier verloren! Ich! Könnt Ihr mich denn nicht hören? Hallo, ist da jemand? Bin ich denn ganz allein hier in dieser Kälte? Was ist denn los? Ist da niemand? Wenn da jemand ist, dann klick mich nicht weg! Bitte, klickt mich nicht weg! Ich bin verloren in der Kälte! Wenn Ihr mich hören könnt, gebt mir ein Zeichen! Ich ertrage diese Kälte nicht mehr! Klickt mich nicht weg! Bleibt hier! Ich brauche Eure Nähe! Ich brauche doch Nähe! Ich habe soviel Liebe zu geben! Klickt mich nicht einfach weg! Ich bin doch da! Hier bin ich ja doch! Hier! Hier bin ich doch! Könnt Ihr mich hören oder sehen? Bin ich hier denn ganz alleine, in dieser entsetzlichen Einsamkeit? Geht nicht weiter auf eine andere Seite! Klickt mich nicht weg! Ich bin es doch! Wie könnt Ihr denn diese Kälte ertragen? Sie ist nicht zu ertragen! Warum sprecht Ihr denn nicht? Seid Ihr nicht da? Was ist denn los? Bin ich denn verflucht, hier auf dieser Seite einzufrieren? Bin ich Euch denn egal? Seid Ihr nicht da? Wo seid Ihr denn? Wo? Ich ertrage es nicht mehr! Ihr könnt mich doch sehen! Ich weiß es doch! Findet Ihr das denn normal? Wie ertragt Ihr die Kälte denn? Hallo, hier bin ich! Hier bin ich doch! Ich bin's doch! Klickt mich nicht einfach weg! Ihr könnt mich doch nicht einfach wegklicken! Was ist denn los mit Euch? Ich bin doch hier! Hier! Hier! Könnt Ihr mich denn nicht hören? Wollt Ihr mich hier zurücklassen? Wollt Ihr mich einfach wegklicken? Was ist denn dann mit mir? Was ist denn dann? Ich ertrage es nicht mehr! Warum sprecht Ihr denn nicht? Ist da niemand? Ist da wirklich niemand? Wenn Ihr hier seid, dann klickt mich nicht weg! Ich bitte Euch: Klickt mich nicht weg! Habt Ihr denn kein Herz? Ist Euer Herz schon gefroren in dieser entsetzlichen Internetkälte! Gebt mir ein Zeichen! Nur ein kleines Zeichen! Könnt Ihr mich hören? Könnt Ihr mich hören? Könnt Ihr mich denn nicht hören? Bin ich denn hier ganz alleine? Wo seid Ihr denn? Hallo, seid Ihr da? Wo seid Ihr denn? Hallo? Ist da jemand? Bin ich denn ganz alleine? Hallo? Hallo? Habt Ihr mich schon weggeklickt? Ich flehe Euch an: Wenn Ihr noch da seid, dann klickt mich nicht weg! Hallo? Ist da jemand? Hallo? Ich etrage es nicht mehr? Bin ich denn hier ganz alleine? Hallo, ich bin's doch! Ich bin's! Ich! Hallo? Wo seid Ihr denn? Was ist denn los? Hallo? Ich bin's! Ich! Hallo? KLickt mich nicht weg! Ich flehe Euch an: Klickt mich nicht weg! Hallo? Hört mich denn niemand? Klickt mich nicht weg, wenn Ihr da seid? Ich habe Euch doch etwas Wichtiges zu sagen! Ich verspreche es Euch, ich sage Euch etwas Wichtiges, wenn Ihr mich nicht wegklickt! Hallo, seid Ihr noch da? Seid Ihr da? Ist da jemand? Hallo?

Mittwoch, 27. Januar 2010

Erinnerung an die Dickichte

...und als sie der Ahnung entgegen gegangen waren, lange, viele, unzählbare Tage und Nächte, die hinter ihnen in den ewigen und dunklen Gründen der vergangenen Zeiten lautlos verfielen, diese drei oder fünf, oder waren es zehn Gestalten, sahen sie es –

das Licht
das Licht der Erschütterung

sie gingen fortan nur noch stockenden Schrittes

rechts waren die winterlichen Dickichte und links waren die Dickichte, rot und braun geworden – der magere Himmel - aus dem Dickicht kam ein stockendes Geräusch... als sie weiter gingen, stockte auch der Weg, er war nicht mehr da, dann war er wieder da, dazwischen Strecken der Ungenauigkeit. Die Dickichte verhielten sich, ehrlich gesagt, nicht anders, kein schönes Bangen, sie nähmen einen leise auf in ihrem fahrigen Gestrüpp - und was war mit dem Himmel? wo war jetzt der Himmel?

Aus: Auszug aus: „Erinnerungen an die Dickichte“, Cordula Stiefel














E. Wildenthal
Selbstporträt 2009
Kugelschreiber auf Papier


Dienstag, 26. Januar 2010

Sein Platz

Er sah, auf dem Jungfernstieg in Hamburg, durch das Schaufenster eines Ladengeschäfts:

ein Paar bei der Sitzprobe des neuen Sofas.

Er sah seine Spiegelung in der Schaufensterscheibe und erkannte, wer er selbst war:

Ein Mensch, wie gemacht für ein unbequemes Möbel.


Montag, 25. Januar 2010

Meine Vögel und ich sangen einen Lobgesang auf Frau Stooss



Foto copyright www.musik-und-gesang.de

Ensamhet!

Mit allem einverstanden,
ja, mit allem,
kann ich es doch nicht ertragen,
wie um mich herum alles
aus sich selbst heraus
mit allem einverstanden ist.
Genug - weg! Es ist genug!




Ansage am Morgen des 25. Januar

Es fällt mir zusehends schwerer
den Tisch zu beantworten
und das klare Licht am Morgen.

Der Gravitation folgsam
sind die Gardinen
und gelb. Jedenfalls
werden wir sterben.

Ich bin nicht mehr einverstanden
auch nicht
mit den Gardinen.

Alles ist von Scheiße erleuchtet!

Mittwoch, 20. Januar 2010

Dienstag, 19. Januar 2010

Matthei: Herr Lotz, wir wollen heute über Ihr Stück „Der große Marsch“ sprechen und somit auch über das „unmögliche Theater“. In diesem Stück, im dritten Akt – wenn man überhaupt von Akten sprechen kann – besteht das Bühnenbild aus vier im Quadrat aufwärtsfahrenden Rolltreppen, die sich jeweils aneinander anschließen, obwohl das physikalisch unmöglich ist. Ist das also „unmögliches Theater“? Lotz: Ja, auch. Matthei: Besteht das „unmögliche Theater“ also einfach nur darin, im Text etwas vorzugeben, das unmöglich umgesetzt werden kann? Lotz: Nein nein, das unmögliche Theater ist möglich, das ist ganz wichtig. Matthei: Das ist ja so ein Spruch, den Sie immer wieder sagen. Wenn man sich aber nicht auf die sprachlichen Bedingungen dieses Satzes, also den vermutlich poetisch gemeinten Widerspruch darin, einlässt, muss man sagen: Es ist ja nicht möglich, etwas zu machen, was physikalisch unmöglich ist. Deshalb hat man das Gefühl, dass ein Stück des unmöglichen Theaters nichts anderes ist als ein Lesedrama, also ein Drama, das von vorneherein nicht für eine Aufführung geschrieben wurde. Lotz: Nein, das ist falsch. Wenn dem so wäre, dann müsste man ja nichts physikalisch Unmögliches fordern in der Regieanweisung. Es geht darum, dass es umgesetzt werden muss, und auch umgesetzt werden kann. Es ist nicht einfach als Text gedacht, sondern es ist für die Aufführung geschrieben. Aber natürlich ist der Text dennoch wichtig: Er fordert die Aufführung ein, deshalb muss er auch bestehen, deshalb ist der Text im unmöglichen Theater auch sehr wichtig. Matthei: Aber Sie schreiben es, und dann kann es nicht umgesetzt werden... Lotz: Nein, es muss umgesetzt werden. Und ich glaube, es kann auch umgesetzt werden. Matthei: Indem man den Nebentext als abstrakte Regieanweisung versteht? Lotz: Nein, indem man ihn konkret versteht, und dann versucht, ihn umzusetzen! Matthei: Ja, aber das ist ja dann Fiktion, und da sind wir ja dann wieder beim Lesedrama! Lotz: Aber ein Stück auf die Bühne zu bringen, wie man so sagt, hat ja immer mit Fiktion zu tun: Man schreibt etwas Fiktionales, und auf der Bühne wird es plötzlich zur Realität – zur Realität im Sinne von Materie und so weiter, oder was auch immer. Das ist für mich der entscheidende Punkt beim Theater: Das Theater ist die Einflugschneise der Fiktion in die Realität. Im Theater kommen diese beiden Dinge zusammen: Zuerst ist die Fiktion, und nach dieser hat sich die Realität zu richten. Matthei: Aber das war ja schon immer so. Lotz: Ja, aber es ist nie ernst genommen worden! Man hat dann gesagt: Nun ja, die Fiktion soll auf der Bühne Realität werden, dann hat sie sich aber bitte schön auch nach der Realität zu richten – und das wurde dann so gemacht. Aber die Fiktion darf sich nicht nach der Realität richten, weil ja nicht die Fiktion das ist, was aufgrund der Realität verändert werden soll, sondern die Realität muss ja verändert werden!
Matthei: Sie behaupten also, Sie fordern irgendwo in einer Regieanweisung irgendwas, zum Beispiel etwas physikalisch Unmögliches, und dann – glauben Sie – wird es einfach umgesetzt? Lotz: Im Grunde genommen ja. Matthei: Produzieren Sie nicht eine künstliche Naivität? Lotz: Vielleicht auch. Aber: Ich bin nicht so naiv, zu glauben, dass diese Dinge einfach eben so möglich sind, aber ich glaube, dass sie grundsätzlich möglich sind, es muss eben nur mit einer gewissen Vehemenz versucht werden. Die Welt in ihrer Beschaffenheit ist in vielen Dingen nicht hinnehmbar, und was kann man denn daraus anderes folgern, als dass sie geändert werden muss! Matthei: Den Leuten am Theater wird das vermutlich egal sein. Lotz: Ja, kann sein, dass denen so einiges egal ist, aber mir ist es nicht egal. Matthei: Sie lassen in Ihrem Stück Tote auftreten, sie sind, so steht es da, wieder lebendig. Das Theater wird das vermutlich nicht machen, oder? Lotz: Ich kann und will ja die Leute vom Theater nicht zu irgendwas zwingen, aber ich bin doch der Meinung, dass es ihre Pflicht wäre, es zu versuchen, und ich bitte sie auch darum. So ein Stück ist ja auch für die Praxis am Theater geschrieben. Und wenn am Theater Leute bereit sind, sich damit auseinanderzusetzen, so gehört es für mich eben auch dazu, sich mit den Vorhandenen nicht automatisch zufrieden zu geben. Dort soll ja auch etwas versucht werden. Scheitern kann man dann ja immer noch. Matthei: Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass der Tod auf dem Theater nicht aufgehoben werden wird. Lotz: Ich verstehe natürlich, was Sie meinen. Andererseits behaupten Sie das mal eben so, weil wir über Jahrtausende erzählt bekommen haben, dass der Tod unabänderlicher Bestandteil des Lebens ist. Diese Dinge fangen aber an, sich aufzuweichen: Die Seegurke oder die Süßwasserhydra zum Beispiel kennen keinen natürlichen Tod. Das weiß man erst seit Kurzem, und es ist klar, was für Möglichkeiten darin liegen. Mit der Abschaffung des natürlichen Todes wäre der Tod nicht völlig aufgehoben – es gibt ja immer noch die zeitlich bedingte unendlich hohe Wahrscheinlichkeit eines Unfalls. Aber es würde dem einzelnen Menschen die Freiheit geben, also in einem gewissen Rahmen, selbst zu entscheiden, wann er sterben will, und würde ihn vom Zwang des natürlichen Todes befreien, der bisher als conditio humana begriffen wurde – zu Unrecht! Warum sollte das Individuum nicht selbst über sein Leben entscheiden können? Natürlich ist das Theater nicht das biologische Forschungslabor. Aber Theater bedeutet für mich eben, dass es der Ort ist, wo das Geschriebene sich materialisiert. Ich könnte mir auch vorstellen, dass das Stück in einem biologischen Forschungslabor aufgeführt wird. Dann ist eben das Forschungslabor das Theater.
Matthei: Ist Ihre Haltung nicht vielleicht eine Pose, also selbst eine Form von Theater – und Sie sind auch die Materialisierung Ihres Geschriebenen? Lotz: Ja, vielleicht ist das so. Aber das Geschriebene ist ja auch vielleicht ein Stück weit die Verschriftlichung dessen, was ich bin. Da kann es aber natürlich auch zu Rückkopplungen kommen. Wahrscheinlich kann man das von außen besser beurteilen, ich bin ja selbst Teil der Rückkopplung. Trotzdem: Ich weiß ja auch, dass es für Unfug gehalten werden kann, was ich möchte, und dass es nicht ganz einfach zu verstehen ist. Aber es ist mir sehr wichtig. Ich weiß schon auch, dass es nicht etwas ist, was sich so eben mal sagen lässt und dann verstehen es alle. Dafür schreibt man ja, damit solche Dinge trotzdem mitteilbar werden. Matthei: Dann darf man vielleicht kein Interview machen, sondern muss es beim Schreiben belassen... Lotz: Ja, vielleicht darf man das dann nicht, aber dann macht man es eben trotzdem. Matthei: Aber, Herr Lotz, Sie schreiben ja nicht nur, sondern Sie reden auch drüber und das nicht zu wenig. Wieso? Lotz: Es ist vermutlich die gleiche Eitelkeit, die einen dazu veranlasst, Schriftsteller zu sein: Der Glaube, dass das, was man zu sagen hat, extrem wichtig ist. Unter irgendwelchen objektiven Gesichtspunkten ist das natürlich völliger Quatsch. Aber wenn man daran nicht glauben kann, kann man wahrscheinlich nicht schreiben. Man ist das Maß, mit dem man die Welt misst. Das ist verrückt, aber ich finde das absolut notwendig, beziehungsweise habe ich keine Idee, wie es anders sein könnte. Vielleicht ist es aber noch etwas anderes, das mich veranlasst, jenseits der Literatur zu sprechen, immer wieder und vielleicht auch viel zu oft: Das Inhaltliche beim Schreiben, das ja abgesehen von der Form, aber auch durch sie da ist, kann im Gegensatz zu dieser leicht verworfen werden, wenn es etwas ist, das außerhalb des Konsens’ liegt. Man kann es dann als „Literatur“ abtun – woran das liegt, weiß ich jetzt auch nicht genau, da müsste ich mal darüber nachdenken. Wenn ich aber diese inhaltlichen Dinge abgesehen von der Literatur auch noch äußere, so können sie zwar für sich auch verworfen werden, aber ich glaube, dass sie im Zusammenspiel mit der Literatur dann eine größere Stabilität aufweisen. Vielleicht könnte man sagen: Das Inhaltliche in der Literatur muss nicht alleine den beschwerlichen Weg in diese andere Art von Diskurs gehen, sondern man hat in diesem bereits eine Art Brückenkopf gebaut. Ich hoffe zumindest, dass das so ist. Matthei: Dem liegt... Lotz: Ich muss da aber vielleicht doch noch etwas dazu sagen: Eigentlich habe ich immer wieder das Gefühl, dass das Unsinn ist, und vielleicht schiebt man da die Argumente auch nur in Position. Wahrscheinlich sollte man sich wirklich nicht noch zu den Texten äußern, weil das dann doch immer eher eine Reduzierung des Ganzen bedeutet. Aber irgendwie kriege ich das nicht hin, wahrscheinlich ist das wirklich diese Eitelkeit oder auch die Ungeduld. Ich muss auch immer darüber schwätzen. Wenn ich vernünftig darüber nachdenken würde, müsste ich es wahrscheinlich lassen. Aber ich schwätze eben so gerne.
Matthei: Dem liegt ja aber – wie auch immer das genau ist – ja aber doch eine politische Absicht... Lotz: Ja natürlich. Matthei: ...zugrunde. Andererseits greifen Sie in Ihrem Stück gerade die politischen Bestrebungen des zeitgenössischen Theaters an? Lotz: Aber ich greife es ja gar nicht an! Ich greife nur die Vorstellung an, dass wenn man etwas inhaltlich Politisches bei einer Aufführung behandelt, dass das dann wirklich politisch sei. Das ist ja nicht so. Das Theater ist ja inzwischen gesellschaftlich ein gutes Stück abseits vom Zentrum angesiedelt und dort positioniert es sich und macht es sich im sogenannten System auf seine Art bequem. Es gilt ja heute beim Theater: Der Markt verlangt Systemkritik. Gerade von jungen Autoren wird das verlangt, weil es sich am besten verkauft. Das liegt daran, dass der Theatergänger das Theater als kritische Institution längst geschluckt hat. Er geht ja ins Theater, um sein politisches Bewusstsein zu befriedigen. Der ist ja meist froh, wenn er da hört, was er eh schon weiß. Deshalb geht er ja ab und zu so gerne da hin. Matthei: Es ist also nicht mehr möglich, noch politisches Theater zu machen? Es soll wohl wieder um Liebe, Treue und Verrat gehen? Lotz: Nein nein, aber das eigentlich Politische ist doch nichts Inhaltliches, sondern etwas Formales. Das sogenannte System, oder wie auch immer man es nennen mag, ist ja etwas Formales, und die inhaltliche Kritik an Symptomen ist doch etwas, was dem ganzen immanent ist und was notwendig ist, um das Ganze so zu erhalten, wie es ist. Es gibt ja keine Macht, die bei uns tatsächlich von oben nach unten ausgeübt wird, sondern sie zirkuliert und wir erhalten sie uns, weil wir uns alle daran beteiligen, indem wir den Medien und somit auch dem Theater glauben, diese Macht sei irgendwo im System zu lokalisieren und wir seien nicht daran beteiligt. Matthei: Aber was heißt das jetzt für das Theater? Lotz: Das Theater sollte nicht so tun, als ob es einen Wirklichkeitsbezug habe und also etwas Wirkliches von außerhalb seiner selbst hineinholen und authentisch wiedergeben könne. Das einzige, was es kann, ist, dass es die gesamten Verhältnisse transzendieren kann und offenlegen kann, aber nicht dadurch, dass es sich dazu äußert oder von außerhalb zu sich hineinbittet, sondern dass sie gezeigt werden, und zwar dort, wo sie dann ja stattfinden: Als eine völlige Inszenierung auf einer Bühne. Matthei: Greifen Sie deshalb das Auftreten von Arbeitslosen auf den Bühnen des zeitgenössischen Theaters in Ihrem Stück an? Lotz: Ja, weil es diesen Glauben gibt, wenn ein echter Arbeitsloser auf der Bühne sich äußere, sei das authentischer, als wenn ein Schauspieler einen Text aufsagt. Dabei gibt es keinen „echten Arbeitslosen“ auf der Bühne, das kann es gar nicht geben. Wenn man den Mann mit zwei Köpfen auf die Bühne stellt, dann hat der auf der Bühne zwei Köpfe, das kann ich akzeptieren. Dann ist er „der zweiköpfige Mann, der auf einer Bühne steht“. So kann es auch „eigentlich Arbeitslose geben, die jetzt aber auf einer Bühne stehen“. Aber das soll ja nicht suggeriert werden, sondern es soll ja meistens suggeriert werden, dass da „echte Arbeitslose“ stehen, deren Echtheit auf der Bühne anhält. Wenn ein Arbeitsloser auf der Bühne steht, ist das überhaupt nicht authentisch, sondern eine völlige Inszenierung, selbst wenn er dort sagt, was er sagen will. Das ist doch Quatsch. Das ist reinster Illusionismus, gerade deshalb, weil eine Authentizität suggeriert wird. Es gibt da keine Authentizität, sondern es kann nur Künstlichkeit geben. Theatrale Künstlichkeit ist da vielleicht das einzig authentische, wenn man so will, zumindest weiß ich keine andere Lösung. Ich gebe zu, dass das ein postmoderner Scheiß ist, aber es ist ein Scheiß, den ich notwendig finde.
Matthei: Aber wird dadurch nicht auch eine Art von Langeweile hergestellt? Wenn man immer sagt: „Ich bin ja nur ein Schauspieler“ und „Das ist hier ja nur eine Bühne“? Das ist doch vielleicht auch eine Art von Borniertheit? Lotz: Ja, das stimmt schon irgendwie, dass es diese Gefahr gibt. Aber ich glaube, man kann das ja auch anders regeln, also irgendwie unreiner, dann hat man mehr Möglichkeiten. Zum Beispiel, ja, sagen wir: Das steht eine Ritterburg auf der Bühne oder so, und die wäre so grau angemalt, und die hätte auch eine schöne Zugbrücke und was weiß ich was: Jedenfalls finde ich, da könnte dann auch der „echte Arbeitslose“ auf dem Turm stehen und aus seinem „echten Arbeitslosenleben“ erzählen. Das fände ich Ok. Ich meine, das wäre dann ja nicht nur einfach eine Theaterbühne, sondern das würde ja dann auch in einer Burg spielen, die wäre dann ja auch da, und die Zugbrücke, die würde dann ja auch ganz echt auf und zu gehen. Matthei: Naja... Lotz: Ok, ich gebe zu, dass es ein bisschen ein behämmertes Beispiel ist. Aber worum es doch geht, ist, dass so ein Medium nicht einfach behauptet, dass es da einfach was von außerhalb, also der Wirklichkeit oder wie auch immer, hineinholt und dass das dann noch immer das Wirkliche sei. Das ist ja keineswegs nur ein Problem des Theaters. Zum Beispiel dieses Interview hier: Nachdem wir es geführt haben, wird die gesprochene Sprache in Schriftsprache übersetzt. Das ist auch Ok, weil man es sonst nicht lesen könnte, aber man gerät da schnell in die Versuchung, zu glauben, man hätte einen Eindruck von der Situation unseres Gesprächs. Das ist ja völliger Quatsch. Zum Beispiel wissen die Leute, die das lesen, gar nicht, dass Ihnen, Herr Matthei, gerade ein Stotterer gegenüber sitzt. Die Leute denken dann, dass ich in der Lage sei, gerade Sätze zu sprechen oder so ein Unsinn. Da sieht man schon, wie authentisch Medien in Bezug auf die Wirklichkeit sind: Nämlich gar nicht. Matthei: Dann hätten wir dieses Interview vielleicht nicht führen sollen, weil es ja gewissermaßen voll von Inszenierung ist, auch von Selbstinszenierung? Lotz: Ja, und zwar vermutlich in allen möglichen Belangen. Aber ich finde, dass man es trotzdem machen kann, nur sollte man gelegentlich darauf hinweisen, dass man das Ganze nicht mit etwas Echtem verwechseln sollte.
Matthei: Darauf ist ja hiermit eigentlich hingewiesen. Soll aber mit solchen Hinweisen nicht auch wieder nur Authentizität erzeugt werden? Lotz: Ja, da haben Sie vermutlich recht, Herr Matthei. Wir sind in einem Teufelskreis. Eigentlich können wir nur hoffen, dass uns die Leute das Ganze einfach nicht glauben. Matthei: Herr Lotz, vielen Dank für das Gespräch. Vielleicht hat es Ihnen ja auch ein bisschen Spaß gemacht, zumal Sie ja gesagt haben, dass Sie so gerne reden! Lotz: Ja, hat es. Ich rede ja wirklich gerne. Gleich ärgere ich mich aber wahrscheinlich wieder, weil mir sofort aufgeht, dass ich nicht über das Schreiben reden sollte. Aber Spaß gemacht hat es ja trotzdem.
Und weiter geht's!
Macht kaputt, was es gar nicht gibt!
Es ist nicht, wie es ist!
Das unmögliche Theater ist möglich!
Wir müssen endlich Unruhe finden!
Die letzte Walnuss
ist verschwunden unterm Bett
am späten Nachmittag.

Montag, 18. Januar 2010

Auf der Kommandobrücke

Obwohl der Untergang des untergehenden Schiffs seit jeher feststeht und also jeder Kurswechsel, jede Beschleunigung oder Verlangsamung der Maschinen, auch das bloße Halten des Kurses bei gleichbleibender Geschwindigkeit allezeit zum Untergang führen muss, schwebt die Hand des Kapitäns unentschlossen über der Schalttafel.


Donnerstag, 14. Januar 2010

Nachtrag vom 17. November 2009

Liebe Freunde,
ich habe jetzt eine halbe Stunde Zeit, um Euch alles zu schreiben, was ich Euch schreiben will. Es ist gut möglich, dass die Zeit nicht reicht, dann dauert es eben ein bißchen länger, bis ihr wieder von mir hört.
Es geht bei allem natürlich darum (ich will versuchen, so zu schreiben, dass ihr es diesmal auch alles lesen könnt) um unser großes gemeinsames Vorhaben um unseren Plan, zu Fuß die unbekannten Gegenden zwischen der einen Stadt und der nächsten zu durchqueren (d.h. von Leipzig nach Berlin) DER MARSCH AUF BERLIN (ein Begriff, den ich doch diskutieren möchte, auch wenn er zweifellos der richtige ist, für das, was wir vorhaben, aber ihr wißt ja, Italien, also das ist ich will wenigstens wissen, auf welche Weise ich die Kontrolle abgebe, über das, was wir tun wollen, wenn es schon Kunst sein soll, wie ihr es fordert).
Hier war es also auch so - auch wenn sonst alles anders war, die Art der Fortbewegung immerhin war dieselbe - wir standen auf und verließen den Raum und gingen durch eine gingen in eine Landschaft, hier setzten wir unser Gespräch fort. Das wird zweifellos auch bei uns so sein, auch wenn wir nicht, wie wir es hier taten, im Kreis zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren, sondern uns schließlich in einer belanglosen Berliner Straße schließlich ohne rechten Abschluss einfach verlaufen und zerstreuen und nicht wissen werden, wohin; nachdem wir bereits alles es wird so sein obwohl wir und auch unser Ausgangspunkt - was immerhin doch eine andere Situation schaffen wird - kein geschlossener Raum sein wird, sondern eine schneeweiße Laube, ein Dach und doch nach allen Seiten offen, ein Fest zu unserer Verabschiedung, feierlich, hochgestimmt gute Stimmung, eine Kapelle spielt unsere Lieblingslieder auf ihre unverwechselbare Art, ein großer Trubel auf der grünen Wiese, an den Rändern auch Bratwürste und lose Reden, und wir laufen also los und setzen unser Gespräch fort, wie wir es begonnen haben, immer wieder von neuem auf dieselbe Weise begonnen und begonnen haben.
Versteht mich nicht falsch - aber das macht ihr nicht, oder? auch wenn ich es nicht wissen kann - doch das wird mir jetzt selbst zuviel - ich will es auch, dass wir diese Gespräche fortsetzen, solange wir können, es ist notwendig, dass das Gespräch auf die alte Weise weitergeht. Am Ende müssen dürfen es wieder nur wir vier sein - Wolfram, Sascha, ich selbst und Roman, der die Kamera hält & all die anderen, die woanders sind und viel sinnvollere Dinge tun und die wir herzlich grüßen und herzlich drücken - und das Gespräch, das wir führen seit unvordenklicher Zeit. Ja. Aber jetzt, d.h. später, dann also, wenn wir losgehen, wenn es losgeht, die neue Zeit, von der ich spreche, dann wird es anders sein müssen. Es wird notwendig sein, dass, wenn wir wieder auf der alten Bahn uns einschwingen, dass wir dann geradeaus weg durch die Felder der Priegnitz fortwandern, wenn die Priegnitz also in dieser Richtung liegt, was wir natürlich vorher nicht wenn durch wissen dürften, und dass Sascha Wolframs unnachahmlich Rede durch die Laute* australische Helmkasuar - jener dieser arme, flugunfähige Vogel - während der Balz äußert, die Laute also, und ich will auch ein Lied singen, das ihr geschrieben habt & es soll schön klingen, aber im falschen Moment, und es wird eine große Verwirrung sein, die uns auf die gerade Bahn aus der Bahn wirft, über Umwege wirft, Umwege, Unwege, über herrliche Flüsse, unbekannten Menschen entgegen, ach, diese armen Menschen - !
Es stimmt schon.
Ich denke in letzter Zeit viel über die Menschen nach, die Menschen,

diese armen, guten Menschen. Diese Menschen, die eingezwängt sind in einem Talkessel. Die sich verlaufen haben im Stadtwald. Die unter den Unterführungen verharren. Die sich auf den Türmen verschanzt haben. Die sich auf den Rückbänken ihrer Autos verstecken. Die in den stillgelegten Stollen umherirren. Die sich im Gras auf dem Hügel verbergen. Die stumm auf einem offenen Feld stehen und in den Himmel blicken. Die gerade aus der öffentlichen Verwaltung gekommen sind und gar nicht wissen, wohin.**

Sie werden es, wie Sascha wußte, niemals wissen. Wir aber wissen es ja - auch von der Karte her, die wir nicht kennen - und aber wir dürfen es nicht vergessen und wir müssen es dann wieder vergessen, damit wir wieder werden, wie die Menschen sind! (Wir sind ja Menschen

*, die der
** Aus: Sascha Macht: Einige bekannte Vorfälle während der Schlacht

Dienstag, 12. Januar 2010

Montag, 11. Januar 2010

Einsamer Stein

Sonntag, 10. Januar 2010

Standortfrage

„Liebe Frau Staatssekretärin, ich bitte Sie“, sagte Wattenborg, „wir befinden uns im Moment in einer kriegerischen Auseinandersetzung, auf die wir zunächst einmal reagieren müssen. Meine Aufgabe hier wird es nicht sein, diplomatische Verhandlungen mit dem Angreifer zu führen, sondern ich werde versuchen, ein Gleichgewicht der Kräfte auf der Basis militärstrategischer Entscheidungen herzustellen, damit diese Verhandlungen später auf gleicher Augenhöhe und in gerechter Art und Weise getätigt werden können. Deshalb, ja deshalb ist zu überlegen, worauf wir unser Augenmerk legen sollten: Halten wir die ganze Stadt, erweitern wir unsere Möglichkeiten der Bekämpfung. Die Frontlinie verlängert sich, uns stehen mehr Gebäude und Straßen zur Verfügung, mehr Optionen auf Winkelzüge. Aber was geschieht mit den Zivilisten? Und wie kontrollieren wir dieses Gebiet? Ziehen wir uns aber gänzlich in die Innenstadt zurück, umgeben diesen Bereich mit einer provisorischen Befestigungsanlage, koordinieren von dort aus unsere Truppenbewegungen, überwachen von dort aus die Truppenbewegungen des Feindes und senden von dort aus Kompanien in die umkämpften Gebiete, so sollte dies in meinen Augen die sicherste Lösung der Standortfrage sein.“

Samstag, 2. Januar 2010

Das meteorologische Weltende




KOMM, GUTER STURM
Walter von Stöltzingen / Sascha Macht

[F / Am / C / G]

Komm, guter Sturm, komm hernie / der über das / Land. Trage die Dächer aller Häuser / ab, auf dass der Re / gen in allen Zi / mmern der Menschen sei. / Ersterben soll die Klage der Ge / läuterten in deinem Ge / heul. / Wüte und wüte und wü / te solang, bis Sti / lle das kostbarste / Gut ist auf Erden. Durchwühle auch die Grä / ben, die tie / fen Straßenrä / nder – fege her / vor, was dort sich verbirgt und nimms mit –
nimms mit!

Erotodromomanie


Abenteuerlust befällt meist Knaben zur Zeit der Geschlechtsreife. Sie entspringt der Gefühlsumwandlung zur Zeit der Pubertät. Robinsonaden, Indianer- und Detektivgeschichten bereiten zumeist den Boden vor, um den durch die Pubertätsentwicklung geweckten Tatendrang in absonderliche Bahnen zu lenken. Die A. kommt auch bei Erwachsenen vor, deren Sexualität nicht in normaler Weise geklärt und geregelt ist. Bei solchen neuropathischen Menschen setzt sich die sexuelle Unruhe, das sexuelle Verlangen mitunter in einen Drang nach Bewegung um. Es entsteht ein krankhafter Wander- oder Reisetrieb (Erotodromomanie nach M. Hirschfeld, auch Poriomanie nach Merzbach). Man spricht daher auch von der »Wonne« oder der »Wollust« des Reisens. –


[Sexualwissenschaft: Abenteuerlust. Bilderlexikon der Erotik, Bd. 3, S. 9]