Freitag, 30. November 2012

Geduld (der Zukunft gegenüber, die längst da ist)



 Freunde! Es wurde aufgespürt –

Wir wurden aufgespürt!

Hört man uns jetzt?
Aber nein!

Noch immer nicht?
Aber nein!

Ein gigantisches Loch
wurde aufgespürt durch eine charakteristische Bewegung

In der 220 Millionen Lichtjahre entfernten
Galaxie NGC 1277 im Sternbild Perseus

Sie sagen, das Monster (diese Typen meinen das Loch)
habe eine Masse von 17 Milliarden
Sonnen (krass viel! Nicht schlecht, Frau Specht)

Und wir? Was sagen sie zu uns?
Haben sie uns gehört? Hören sie, was wir hier immer sagen?
Ich meine, hören sie unseren edlen, verrufenen Gesang? Hören sie uns rascheln?
Können sie uns überhaupt hören? Hören sie, dass wir nagen?
Wissen sie, was wir meinen? Was wir immer gemeint haben?

Nichts!
aber das Loch, sagen diese Tölpel jetzt immer
nimmt, was sie alle erstaunt
14 Prozent der Gesamtmasse der Galaxie NCG 1277 ein (!)
obwohl typischerweise schwarze Löcher nur 0,1 Prozent der Masse
ihrer Muttergalaxien einnehmen...

Hören sie unsere Flügeli? Hören sie die Bäume, auf denen wir sitzen?
Hören sie unsere verqueren Lungen, aus denen es flüstert und schallmeit?

naja diese Muttergalaxien...

und jetzt sind die Forscher irgendwie beleidigt.

Und wie hat sich nun dieses Loch bemerkbar gemacht?

Durch seine charakteristische Verschiebung
sie meinen, die Spektrallinien hätten sich
„in Folge der schnellen Bewegungen umliegender Sternli“
ein bisschen verschoben.

Pff...

Ein charakteristischer Tanz
Haben wir getanzt
Auf den Linien des Spektrums
Es war ein charakteristischer Tanz
Auf einem Schiff auf einem Schiff
Auf dem Mast eines Schiffes –

Was erstaunt die Astronauten?
Ach, sie hätten das Loch eher in einer mindestens zwanzig Mal
so grossen Galaxie als die NGC 1277 erwartet –
nun sind sie irgendwie beleidigt.

Das Loch, rufen sie aber noch, sei acht Milliarden Jahre alt.

Aha?

Wer ruft das?
Das rufen wir!
Wo aber sind wir?

Im Loch! Im Loch!

Erst in 220 Millionen Lichtjahren
Werden sie uns hören

Jawohl...

Die beleidigten Dummköpfe
naja immerhin...

Jawohl...

Montag, 26. November 2012

Anruf am Morgen



Es muss kurz vor sieben gewesen sein, als das Telefon klingelte. Ich streckte mich über die Matratze nach dem Hörer, ganz so, wie ich es im Schauspielunterricht gelernt hatte, weil man als Schauspielerin in Filmen häufig die Szene spielen muss, dass man, noch schlafend, angerufen wird, und man sich dann über das Bett nach dem Telefon streckt, und genauso streckte ich mich im Halbschlaf, nahm ab und sagte hallo.
Die Person am anderen Ende der Leitung fragte:
Frau Lohan? Hallo, Frau Lohan? Spreche ich mit Lindsay Lohan? Frau Lohan, sind Sie dran? Hallo hallo Frau Lohan? Hallo? Lohan? Hallo hallo?
Ich bejahte seine Fragen, sagte, dass ich dran sei, aber er schien mich nicht hören zu können. Er wurde immer aufgebrachter: Hallo hallo? Frau Lohan? Können Sie mich hören? Hallo? Frau Lohan? Hallo!!! Lindsay Lohan, bin ich richtig bei Lindsay Lohan? Hallo? Haaalllooo? Ich kann Sie nicht hören, Frau Lohan, sind Sie am Apparat, Frau Lohan? Können Sie mich hören? Hallo? Wenn Sie mich hören können: Ich kann Sie nicht hören! Frau Lohan, irgendwas stimmt nicht mit der Leitung, sind Sie überhaupt dran, Frau Lohan, ich kann Sie nicht hören, Frau Lohan, können Sie mich hören? Ich kann Sie nicht hören, Frau Lohan, sind Sie überhaupt dran, Frau Lohan, spreche ich mit Lindsay Lohan, ich kann Sie nicht hören, Frau Lohan, hallo! Hallo? Ich kann Sie gar nicht hören, Frau Lohan, irgendwas stimmt hier nicht, sind Sie überhaupt dran, Frau Lohan? Hallo? Hallo? Ist da wer? Können Sie mich hören? Ich höre gar nichts. So eine Scheiße.
Dann legte er auf. Ich legte auch auf. Nach wenigen Sekunden klingelte das Telefon erneut. Ich nahm ab.
Hallo?, sagte ich.
Hallo, können Sie mich hören?
Ja.
Ah, da bin ich aber froh. Ich hatte eben schon mal angerufen, aber ich habe nichts gehört.
Ich weiß, sagte ich.
Sie haben mich gehört?, fragte die Person am anderen Ende.
Ja, sagte ich.
Ich konnte Sie aber nicht hören, sagte er.
Ich weiß, sagte ich.
Ich habe bestimmt fünfzehn mal gefragt, ob Sie mich hören können, aber ich habe Sie nicht gehört.
Ich weiß, sagte ich, ich habe Sie ja gehört.
Ja richtig, sagte er, Sie haben mich ja gehört, nur ich habe Sie nicht gehört. Da stimmte irgendwas nicht, da war irgendwas komisch mit der Verbindung, ich habe Sie einfach nicht gehört.
Ich weiß, sagte ich, ich konnte es hören.
Ja richtig, erwiderte er, Sie konnten es ja hören. Nur ich konnte es nicht hören, also Sie, Frau Lohan, konnte ich nicht hören. Ich spreche doch mit  Frau Lohan?
Ja, sagte ich.
Hallo?, fragte die Stimme am anderen Ende.
Ja, sagte ich, ich habe ‚ja’ gesagt!
Hallo?, fragte die Stimme. Hallo? Ich kann Sie nicht mehr hören… Frau Lohan? Können Sie mich hören?
Ja, sagte ich, ich kann Sie hören.
Hallo, sagte der Mann am anderen Ende, ich kann sie nicht hören, hallo, sind Sie noch dran? Hallo, Frau Lohan? Hallo? Ich kann Sie nicht mehr hören, Frau Lohan? Hallo? Können Sie mich hören?
Ja, sagte ich (ich war inzwischen hellwach).
Hallo, rief die Person ins Telefon, hallo!? Ich kann Sie gar nicht mehr hören, Frau Lohan, irgendwas stimmt hier nicht, sind Sie überhaupt noch dran, Frau Lohan? Hallo? Hallo? Ist da wer? Können Sie mich hören? Ich höre gar nichts. So eine Scheiße.
Er legte auf. Auch ich legte auf. Nach einigen Sekunden klingelte das Telefon erneut. Ich ließ es einfach klingeln. Irgendwann hörte es wieder auf. Ich war erleichtert.
Dann, vielleicht eine halbe Minute später, klingelte das Telefon erneut. Ich ließ es wieder eine Weile klingeln, dann nervte es mich aber so, dass ich doch abnahm.
Es war wieder die selbe Person.
Hallo, sagte er, Frau Lohan? Hallo? Spreche ich mit Frau Lohan, können Sie mich hören?
Ja, sagte ich.
Uuuh, da bin ich aber erleichtert, sagte er.
Wer sind Sie überhaupt, fragte ich.
Charly Mendozino, antwortete er.
Und weshalb rufen Sie an, fragte ich.
Ich bin Filmproduzent, sagte er, und ich würde gerne ein Projekt mit Ihnen besprechen!
Worum geht es denn, fragte ich.
Es geht um die Verfilmung Ihres Lebens, antwortete Charly Mendozino. Leider hat aber Megan Fox, die die optimale Besetzung für Sie gewesen wäre, kurzfristig abgesagt, und da sind Sie uns sofort eingefallen. Könnten Sie sich das vorstellen?
Das wäre wunderbar, sagte ich, sehr gerne.

Nach all dem Ärger in der letzten Zeit war das endlich wieder eine gute Nachricht!

Samstag, 24. November 2012

Do-it-yourself-Tipp zum Wochenende


Heute von César Aira aus Argentinien:

"Er hatte sich vorgenommen, einen klavierspielenden Fisch zu präparieren."

Freitag, 23. November 2012

Hugh Iltis





"Another of Iltis's discoveries occurred in 1962, while he and Don Ugent were on a plant collecting expedition in Peru. Iltis spotted a wildtomato that had never been classified by taxonomists before, which he noted as No. 832."


Luz

Die Ursprünge der Greifswalder Geheimgesellschaft „Orden des Luz“, auch „Luzorden“ genannt, liegen verborgen in einem Dickicht aus Mutmaßungen, Behauptungen, unverhohlenen Lügen und dummen Irrtümern, und nur wenig Gesichertes gibt es über Vergangenheit, Struktur und Zweck des Ordens zu sagen, kurz: Die Geschichte des Luzordens ist eine Ansammlung von üblen Merkwürdigkeiten, die aufgrund ihrer Blutigkeit nicht anders als religiös zu bezeichnen sind, und niemand, der bei Verstand ist, sollte dieser Geschichte leichtfertig Glauben schenken. Historiker gehen davon aus, dass der Orden im ausgehenden Mittelalter unter dem Namen „Hohelied-Bruderschaft am Rande der See“ firmierte und sich rein karitativen Aufgaben widmete, also die Armen speiste, die Kranken pflegte und die Verrückten in Sicherheit brachte. Nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges sorgten sich die Ordensbrüder um ein harmonisches Miteinander mit den schwedischen Besatzern; die Gemeinschaft war damals unter dem Namen „Zweckmäßige Eintracht von großer Ehre und Aufrichtigkeit im Schwedentum“ bekannt, und genau genommen verhielten sich ihre Mitglieder den Schweden gegenüber wie speichelleckende Kollaborateure. Mit Beginn der imperialistischen Bestrebungen europäischer Großmächte änderte sich auch das Wesen des Ordens: Als in ganz Mitteleuropa gefürchtete „Königsgemeinschaft des Heiligen Sturms“ propagierten die Brüder nun den Willen zur totalen Expansion und die rücksichtslose Unterdrückung des Schwachen durch den Starken. Aufklärung und Freimaurerei führten zu einer kurzen Rückbesinnung des Ordens, der sich im ausgehenden 18. Jahrhundert als „Lächelnde Loge“ darum bemühte, ein weder friedliches noch feindliches Zusammenleben aller Völker herbeizuführen. Das Auftauchen eines geheimnisvollen Gegenstands, dessen Art und Wirkung schnell zum zentralen Glaubensinhalt der Bruderschaft wurde, führte schließlich wieder zu einer Verkümmerung der Ordensideale, eine Verkümmerung, die mit Gewalt, Machtgier und Humorlosigkeit einherging und somit paradigmatisch ist für ein 19. Jahrhundert, das all die Herrlichkeit und die Grausamkeit der Moderne vorausnahm: Am Beginn dieser lückenhaften Kette von Berichten, die die letzte Entwicklung des Luzordens eher verdunkelt denn erhellt, steht ein von allerlei Ängsten gepeinigter Alchemist namens Leandro Angelosanto, der 1873 im österreichisch-ungarischen Fiume, dem heutigen kroatischen Rijeka, geboren wurde und im Alter von zwanzig Jahren nach Venedig fliehen musste (aufgrund seiner immer hartnäckiger gewordenen Versuche, das Herz einer bereits 74jährigen, alleinstehenden Prinzessin zu erobern, die schließlich darin gipfelten, dass Angelosanto den Kammerdiener seiner Angebeteten erschlug, einen kämpferischen Kammerdiener, der die Unschuld seiner Herrin bis aufs Blut verteidigte). Auf seiner Flucht verbarg er sich vor den kaiserlichen Häschern im hintersten Winkel einer Höhle im Wald, unweit von Falkenberg, dem heutigen italienischen Montfalcone. Dort stieß er auf einen einzelnen, bläulich schimmernden Stein, der etwa die Größe zweier nebeneinanderliegender Fäuste besaß, von Angelosanto auf den kraftvollen und unheimlichen Namen „Luz“ getauft wurde und den weiteren Verlauf seines Lebens und den Verlauf des Lebens vieler anderer Menschen auf entscheidende Art und Weise mitbestimmen sollte – so behauptet Angelosanto es zumindest in seinen umfassenden autobiografischen Schriften, die, angestrengt durch Benito Mussolini, später gesammelt unter dem Titel „In einer Landschaft des Todes. Leben und Gedanken des Alchemisten, Freiheitskämpfers und Geheimwissenschaftlers Leandro Angelosanto“ in fast ganz Europa erschienen (außer in der Schweiz, da die Schweizer in den frühen 1930er Jahren keinen Sinn für solcherlei martialische Heldengeschichten besaßen). In Venedig führte Angelosanto das Leben eines Vagabunden, stellte wieder älteren Frauen der Oberschicht nach (zumeist einer verwitweten Donna oder einer abenteuerlustigen Kaufmannstochter) und ergab sich, wenn es dunkelte und er allein in seiner Dachkammer saß, hingebungsvoll dem Stein „Luz“, den er die ganze Nacht über küsste, ihm allerhand Fragen stellte (deren Antworten stets dieselben waren: ein geheimnisvolles, stilles Schimmern des Gesteins in der Finsternis) und mit seinen Tränen bedeckte, Tränen des Glücks und immer wieder Tränen der Angst. Als glühender Verfechter des Ersten Weltkrieges verehrte Angelosanto den Schriftsteller Gabriele D’Annunzio, einen größenwahnsinnigen Symbolisten, Vertreter des Fin de Siècle und Vordenker des europäischen Faschismus. Angelosanto und er bildeten in den späten Kriegsjahren ein unzertrennliches Gespann: Angelosanto trat als esoterischer Berater D’Annunzios auf, erstellte die „Eintausendeinhunderteins Luzischen Horoskope“ für seinen Freund (absurde Vorhersagen, die der Alchemist aus einer stinkenden Rinderbrühe ablas, in die er vorher den Stein getaucht hatte, und die bis zu eine Million Jahre in die Zukunft reichten, eine Zukunft, in der der die Erleuchtung erlangte Geist Gabriele D’Annunzios in einer riesigen Glühbirne fortlebt und die Menschheit zu den Sternen führt und darüber hinaus, in eine Unterwasserwelt außerhalb der universalen Hülle, wo alle Menschen wieder zu Fischen werden, gigantischen, blutdurstigen Fischen des Krieges), ließ sich von ihm großzügig aushalten und pflegte inbrünstig seine Eifersucht auf D’Annunzios zweiten Vertrauten, den deutschen Universalgelehrten Karl Gustav Vollmoeller, den Angelosanto hasste wie nichts auf der Welt. Doch während D’Annunzio als Soldat begeistert in den Krieg zog und mit einem Flugzeug vom Typ SVA 10 Propagandablätter über Wien abwarf („Das Drohen der Schwinge des jungen italienischen Adlers gleicht nicht der finsteren Bronze im morgendlichen Licht. Die unbekümmerte Kühnheit wirft über Sankt Stephan und den Graben das unwiderstehliche Wort, Wiener! Viva l’Italia.“), fürchtete Angelosanto den eigenen Tod und versteckte sich über Wochen hinweg in seiner weitläufigen Wohnung in Rom, das Licht gelöscht, die Fenster verbarrikadiert, „Luz“, den heiligen Stein, wimmernd an die bebende Brust gepresst. Im September 1919 schließlich versammelte D’Annunzio zweitausendfünfhundert Freischärler, die Arditi, um die unabhängige und von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs kontrollierte Stadt Fiume in den italienischen Herrschaftsbereich zurückzuholen. Einige Historiker führen die Idee zu diesem Himmelfahrtskommando auf Angelosanto zurück, dem davor grauste, dass die Alliierten seine Heimatstadt dem Staat der Slowenen, Kroaten und Serben einverleibten, ein aus dem zerschlagenen Österreich-Ungarn neu formiertes Gebilde, das der verärgerte Angelosanto als „eine Bastelarbeit der Entente! ein gemeiner Barbarenpfuhl! ein Narrenturm, entsetzlich!“ beschimpfte. In einer für alle Anwesenden bewegenden Zeremonie überreichte Angelosanto seinem Freund D’Annunzio sein Heiligstes, den „Luz“, auf dass der Anführer der Arditi ihn mitnehme ins ferne Fiume, wo er über das Wohl aller in der Stadt weilenden Menschen wachen solle, wenn schon Angelosanto aufgrund seiner Todesfurcht selbst nicht mitkommen könne. Dann verließen die Truppen Italien. Drei Tage später entschied sich Angelosanto, ganz grau vor Kummer und schier verrückt vor Sorge um seinen Stein, den Arditi nachzureiten, durchquerte auf seinem Ross „Gentilezza“ Latium und Umbrien, den Wind im Rücken, den italienischen Wind, „der uns satt sein lässt, ohne dass wir gegessen haben, all die Sorgenvollen und die Sorgenfreien gleichermaßen wissen lassend, dass alles gut werden wird, einestags“. In der Emilia-Romagna, nicht weit von Ravenna, kam er in einen Wald. Dort hauste eine Gruppe wilder Frauen, die sich als „Hexen der Zukunft“ bezeichneten und die Bewohner der nahen Dörfer mit Heilsalben, Glücksbringern und Potenzmittelchen aus Kräutern, Blut, Dreck, Schlangengift und Tierfett versorgten, Schwangeren bei der Geburt zur Hand gingen, die Geister rachsüchtiger Ahnen aus Kellern, Zwischenwänden, Dachböden und den Herzen der verängstigten Nachfahren vertrieben sowie arglose Durchreisende überfielen, beraubten und ermordeten. Mühelos zogen sie den schreienden Leandro Angelosanto von seinem Pferd „Gentilezza“, schlitzten ihm mit kurzen Messern Brust und Bauch auf, schlugen ihm mit Knüppeln den Schädel entzwei und verscharrten seine Leiche unter einem Lorbeerstrauch (ein Ort, den Mussolini persönlich ausgemacht haben wollte und einmal im Jahr besuchte, in tiefer Andacht versunken, ab und zu einzelne Worte flüsternd, die niemand verstand). Die wenigen Wertgegenstände (eine Taschenuhr, drei Ringe, ein Schlüssel aus Porzellan und ein winziges, goldenes Flugzeug) behielten sie, verkauften sie oder warfen sie in einen nahen Fluss. Währenddessen erreichten Gabriele D’Annunzio und die Arditi Fiume und besetzten die Stadt am 12. September 1919. D‘Annunzios „Italienische Regentschaft am Quarnero“ legitimierte ihn als Alleinherrscher, die Verfassung „Carta del Canaro“ erklärte die Musik zum fundamentalen Prinzip des Staates, dem „unbekannten Genius“ war eine von zehn eingerichteten Zünften geweiht. Viele der in der Stadt lebenden Kroaten wurden vertrieben, die kroatische Sprache verboten. D’Annunzio erfuhr von einem Boten, dass Angelosanto Rom verlassen, aber verschollen sei; mit der unumstößlichen Gewissheit, seinen Gefährten niemals wieder zu sehen, erklärte er, den Stein „Luz“ bis an sein Lebensende vor den „Feinden der Freiheit“ zu verteidigen. Im Grenzvertrag von Rapallo zwischen Italien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen wurde indes festgelegt, die Stadt als Freistaat Fiume in die Unabhängigkeit zu entlassen, eine herbe Enttäuschung für den kurzatmigen Regenten, der immer auf eine Annexion der Stadt durch Italien gehofft hatte. Während der „Blutigen Weihnacht“ 1920 mussten D‘Annunzio und seine Anhänger schließlich Hals über Kopf vor den Truppen des italienischen Heeres aus der Stadt fliehen, nachdem er großzügig Italien den Krieg erklärt und das italienische Schlachtschiff „Andrea Doria“ als Antwort darauf seinen Palast beschossen hatte. Der Stein „Luz“ blieb im Palast zurück, sicher verwahrt in einer mit Smaragden besetzten Schatulle, die die Insignien der „Italienischen Regentschaft am Quarnero“ zierten: der Ouroboros, die sich selbst in den Schwanz beißende Schlange, der Große Wagen am roten Himmel über dem Adriatischen Meer, dazu die höflich zähnefletschende Frage „Quis contra nos?“ – „Wer ist gegen uns?“
Gefunden wurden die Schatulle und ihr kostbarer Inhalt von Umil Bubiĉ, einem Dieb, der von ähnlich zweifelhaftem Charakter wie Leandro Angelosanto war, der jedoch niemals das Glück genießen durfte, sein kurzes Leben in Reichtum und Müßiggang zu verbringen. In irgendeiner der wahnsinnigen Nächte zwischen Weihnachts- und Silvesterfest 1920 war er in den geräumten Palast eingedrungen, während draußen die Schüsse der Arditi und der Italiener durch die dunklen Straßen hallten. Umil Bubiĉ verstand die peinlichen Wirrungen nicht, die Gabriele D’Annunzios Besetzung und die darauf erfolgte Reaktion des Königreichs Italien auslösten, und er hatte nur Spott übrig für solche Idioten aus Italien wie D’Annunzio oder Alceste De Ambris, Anarchosyndikalist und Matrosenanführer, die sich für dieses stinkende Drecksloch Fiume den Arsch aufrissen. Bubiĉ drang also in die Privatgemächer des ehemaligen Potentaten ein und entdeckte unter dem herrschaftlichen Bett die Schatulle. Der Anblick des „Luz“, dessen bläuliche Adern in dem schwarzen, auf dunklem Samt gebetteten Gestein zu pulsieren schienen, löste einen plötzlichen Zorn in ihm aus. Tränen liefen dem Dieb über die roten Wangen, schlimme Worte wie „Verderben“, „Schärfe“, „Irrsinn“ und „Gewalt“ stürmten durch seinen Verstand (lediglich die Worte, keine daraus evozierten Bilder), und mit den Schneidezähnen biss er sich die Unterlippe blutig, als er den Stein in die Hand nahm und durch das geschlossene Fenster hinunter auf die Straße schleuderte. Die Schatulle, die ihm aufgrund ihrer goldenen Verzierungen als überaus wertvoll erschien, klemmte er sich unter den Arm, verließ den Palast und traf im Hof auf eine Gruppe betrunkener Arditi, die ihn mit Benzin übergossen und anzündeten, eine Tat, die, so viel sei gesagt, von den Arditi aus Mitleid begangen wurde, aus Mitleid mit sich selbst.
In den folgenden fünfzig Jahren tauchte der Stein „Luz“ an mehreren Orten auf. Ungewöhnlich ist jedoch, dass er erst im Jahre 1973 von einer Studentin der Ozeanologie genau an derselben Stelle entdeckt wurde, wo er durch den beherzten Wurf des Diebes Umil Bubiĉ zu Weihnachten 1920 eigentlich hätte aufschlagen sollen. Einige Leute, insbesondere die Brüder des „Luzordens“, erklären diesen merkwürdigen Umstand mit einem „freien Willen“ des „Luz“, sich ab und zu unabhängig von physikalischen Beschränkungen durch Zeit und Raum bewegen zu wollen, an außergewöhnlicheren Orten oder vielleicht auch weniger außergewöhnlichen Orten als unserer Welt herumzutreiben, um anschließend an seinen vom Mahlrad des Schicksals zugewiesenen Platz zurückzukehren, dem Seelenfrieden der Sterblichen zuliebe.   
1924 erschien er während der feierlichen Gründung der Mongolischen Volksrepublik am Himmel über Ulan Bator, und jeder, der sein Funkeln erblickte, winkte ihm ergriffen zu.
1936 entzündete der Leichtathlet Fritz Schilgen während der Eröffnungsveranstaltung der Olympischen Sommerspiele in Berlin die Olympische Flamme, und noch Jahre später behauptete er im engsten Freundeskreis, in der Feuerschale habe ein bläulich schimmernder Stein gelegen, der im Moment des Entzündens zu ihm gesprochen habe, aber bei all den Jubelrufen und der Marschmusik hatte er, Schilgen, sein Gemurmel leider nicht verstehen können.
Im Oktober 1945 entdeckte der Maler Alfred Partikel auf seinem fast vollendeten Gemälde „Niobes trostloser Garten“ am rechten Rand, auf einem in düsteren Farben gehaltenen Radieschenfeld, einen kleinen, blauen Stein, den er nicht dort hingemalt hatte. Partikel verließ unverzüglich sein Häuschen im Ostseedorf Ahrenshoop, betrat ein Waldstück in der Nähe und wurde nie wieder gesehen.
Mitte der 1950er Jahre kursierte in westeuropäischen Bergsteigerkreisen das Gerücht, ein Schweizer Abenteurer namens Ruedi Mase (oder Ruedi Maise oder Ruedi Meuse) hätte zwischen Hindukusch und Karakorum ein weiteres Gebirge entdeckt, ein Gebirge aus bläulich schimmerndem Gestein, eine, wie es in der Illustrierten „Bunter Superblitz“ hieß, „unfassbare Sensation“, die das Leben aller Menschen auf der Welt bis auf Weiteres komplett verändere. Die Besitzerin des Revolverblattes, die Hamburgerin Eleonore Kleinert, ehemalige Nazi-Spionin in London und Paris, beauftragte 1957 drei ihrer Journalisten, den Abenteurer ausfindig zu machen. Die Journalisten übersprangen jedoch die Suche und begaben sich eigenständig ins pakistanisch-indische Grenzgebiet, um selbst den Beweis für das „Blaue Gebirge“ zu erbringen. Man vermutet, sie kamen in einer Lawine um, stürzten in eine Gletscherspalte oder wurden von einem Schneetiger gerissen.       
Die 1960er Jahre werden innerhalb des „Luzordens“ als „Heiliges Luzisches Jahrzehnt“ bezeichnet, da der Stein in dieser Dekade besonders häufig auftauchte: 1961 konnte man ihn bei einer sauerländischen Kleintier- und Geflügelmesse erblicken, als er zusammen mit drei Eiern im Spontangelege der mehrfach preisgekrönten Henne „Burgunde“ erschien, vor den Augen des verblüfften Publikums aber verschwand; 1963 behauptete Walentina Wladimirowna Tereschkowa, die erste Frau im All, in einer Funkübertragung aus ihrer Raumkapsel „Wostok 6“, ein winziger, bläulich schimmernder Asteroid begleite ihren Flug durch die Unendlichkeit des Universums (der Gesprächsmitschnitt wurde später vom KGB vernichtet, ebenso äußerte sich Frau Tereschkowa nie wieder zu diesem Vorfall); während eines Interviews für einen regionalen Radiosender in Phoenix, Arizona, erklärte der Pensionär und Katastrophentourist Randall Mills, ein notorischer Schaulustiger, er sei bei der Ermordung des Kennedy-Attentäters Lee Harvey Oswald durch den Barbesitzer Jack Ruby zugegen gewesen und habe deutlich erkennen können, dass aus Rubys Revolver im Moment des Schusses ein bläuliches Licht hervorblitzte, aus dem eine Schnur bläulichen Lichts sich durch den Keller des Polizeigebäudes von Dallas in Richtung Oswald aufspannte, und dass sich schließlich am Ende dieser Schnur ein zweiter bläulicher Blitz in Oswalds Unterleib bohrte – auf die Frage des Radiomoderators, warum man dieses Licht auf den Film- und Fotoaufnahmen nicht sehen könne, antwortete Mills nur, dass Rubys Waffe und Munition, vielleicht sogar Jack Ruby selbst, nicht von dieser Welt seien und deshalb nicht mit irdischen Gerätschaften eingefangen werden könnten; 1967 erhielt der ecuadorianische Drogenbaron und Dichter zahlreicher erzkatholischer Litaneien, Eufemiano Molina Molina (der sich selbst als „Eufemiano a Sancta Clara“ bezeichnete, ein Name, den aber niemand benutzte; stattdessen nannte man ihn „El Profesional“ oder „El Arquitecto“), einen Brief, in dem die Legende von einer mystischen „Blauen Küche“ inmitten des Urwalds beschrieben wurde, in der eine nicht näher bezeichnete körperlose Kraft unentwegt riesige Mengen reinen Kokains produzieren würde, ein Kokain mit leichtem Stich ins Blau – als Beweis der Existenz dieser Küche lag dem Schreiben ein winziger, bläulich schimmernder Stein bei, der Eufemiano Molina Molinas Verstand aussetzen ließ und eine beispiellose Suchaktion zur Folge hatte, bei der die Mitarbeiter des Drogenbosses mehr als einhundertfünfzig Regenwalddörfer dem Erdboden gleichmachten, deren Bewohner vertrieben, entführten oder ermordeten und tausende Quadratkilometer Dschungelfläche niederbrannten, ehe sie nach zwei Jahren mit der schlechten Nachricht zu Eufemiano Molina Molina zurückkehrten, nicht ein Krümelchen Blauen Kokains gefunden zu haben; während des totalen Stromausfalls von Istanbul im Jahre 1969 beobachteten unzählige Stadtbewohner die Invasion ihrer dunklen Häuser und Wohnungen durch absonderliche Steine, die allesamt von einem blauen Licht umgeben waren und aus dem Nichts auf den Boden prasselten, gemächlich durch den Raum schwebten, sich in den Haaren und Kleidern der Menschen verfingen, Fensterscheiben zerspringen ließen, verängstigten Haustieren nachjagten, eigenartig flüsternde Geräusche machten, in Wirbeln aus den Ofenrohren geblasen wurden, sich unter den Röcken der Frauen in Luft auflösten oder zu kleinen, leuchtenden Haufen in den Zimmerecken sammelten – als man zwei Stunden später den Strom wieder eingeschaltet hatte und nach und nach die Lampen entzündet wurden, die Bewohner Istanbuls buchstäblich in ihre Lebendigkeit zurückfanden, waren alle Steine, jeder einzelne, bereits längst verschwunden.
So weit, so gut: Im Sommer 1973 plumpste der Stein „Luz“ vor die Mauern des Palastes von Rijeka, dem früheren Fiume, und dort stolperte die angehende Ozeanologin Annepetra Löbau über ihn, der das großzügige Josip-Broz-Tito-Wissenschaftsstipendium gestattete, für zwei Semester an der hiesigen Universität zu studieren. Hier wollte sich die Ostberlinerin eingehend mit der Küstenlandschaft der Kvarner-Bucht beschäftigen, die in früherer, längst vergessener Zeit auch unter dem Namen „Golfo del Quarnero“ bekannt war, denn nur dort, so ihre steile These, „würden sich der sozialistische Mensch, das intelligente Land- und das weniger intelligente Wassergetier auf Augenhöhe begegnen“, eine rätselhafte These, die ihr von Professoren und Kommilitonen viel Hohn einbrachte, da Annepetra Löbau sie niemals tiefgründiger ausführte, geschweige denn stichhaltige Beweise für ihre Behauptung vorlegen konnte. Als sie den Stein „Luz“ entdeckte, hob sie ihn auf, betrachtete ihn ausgiebig mit einem Blick, der Abscheu, Freude und Hoffnungslosigkeit zugleich in sich barg, und trug ihn hinunter zum Meer wie ein finsteres Ei, aus dem schon bald ein die Erde verzehrendes Reptil mit weißen Augen und vollen Lippen schlüpfen würde. Annepetra Löbau stapfte ins Wasser, und als die Wellen um ihre Hüfte schwappten, hielt sie inne und streckte „Luz“ gen Himmel, stundenlang, ohne ein Wort zu sagen oder sich zu regen. Als die Nacht hereinbrach, meldeten einige Fischer, die gerade von der offenen See in den Hafen zurückkehrten (auf ihren flachen Booten zappelten tausende winzige Fische), der Polizei von Rijeka, dass ein junges Mädchen im Wasser stand, und dieses junge Mädchen, bei Tito!, sehe aus wie jemand, der gerade gestorben sei, oder wie jemand, der, wenn er noch am Leben sei, in Kürze eine gewaltige Dummheit begehen würde.
Während zwei Polizisten Annepetra Löbau aus dem Wasser führten, sie in den Wagen setzten und mit ihr zur örtlichen Nervenheilanstalt fuhren, wo die Studentin geschlagene vier Jahre zubringen musste, ehe man sie als „symptomfrei“ in die DDR abschob, blieb Luka Boŝković, Agent der Udba, dem jugoslawischen Staatsicherheitsdienst, am Strand zurück, den Stein „Luz“ in beiden Händen haltend. Wäre von der verrückten Deutschen eine größere Bedrohung für Ordnung und Frieden im Staat Jugoslawien ausgegangen, so dachte Luka Boŝković, dann hätte er sich persönlich um das Mädchen gekümmert, aber da sie eine ungefährliche verrückte Deutsche war, sollten sich doch die Quacksalber im Irrenhaus von Rijeka mit ihrem Fall befassen. Doch als Luka Boŝković den seltsamen, blauen Stein in seinen Händen hin und her drehte, wurde ihm klar, dass er sich trotzdem die Hände schmutzig gemacht hatte, auch wenn eine seiner vielfältigen Methoden zur „Schadensbegrenzung“ gar nicht zum Einsatz gekommen war: Dieser beschissene, nichtsnutzige Klumpen Fels hatte ihm die Handinnenflächen und die Finger dunkelblau gefärbt. Panik erfasste Luka Boŝković. Er hätte den Stein einfach ins Meer werfen oder einem der ahnungslosen Fischer schenken können mit der Aufforderung, niemandem von der Schenkung zu erzählen, doch der Udba-Agent glaubte felsenfest, dass er sich mit der Färbung seiner Hände einen grausamen, unnachgiebigen Fluch eingefangen habe, der direkt vom Stein ausging und dessen Ausmaße auf sein weiteres Leben nicht kalkulierbar seien. Also gab es für ihn, den loyalen Streiter für die Erhaltung des Sozialismus in Südosteuropa, nur eine einzige Möglichkeit: Der Stein musste das politische System wechseln, auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs verschwinden, dorthin, wo der Kapitalismus die Menschen knechtete, eine, dem Verständnis eines Luka Boŝković folgend, durchaus selbstgewählte Knechtschaft, in der ein fluchbeladener, bläulich schimmernder, schwarzer Stein dem bereits geschehenen Unheil nicht allzu viel hinzufügen konnte. Luka Boŝković setzte sich in seinen Wagen und fuhr davon, durchquerte Slowenien und gelangte schließlich zu dem kleinen Grenzübergang im Loibltunnel südlich der österreichischen Stadt Klagenfurt. Mit vorgehaltener Pistole zwang er die österreichischen Grenzposten, einen kurzen Dicken, der leicht angetrunken war, und einen langen Dürren mit dem Blick einer Taube, ihn passieren zu lassen. Dem Dicken fielen sofort die dunkelblauen Hände des Udba-Agenten auf, Hände, die nur der Teufel persönlich eingefärbt haben konnte, also öffnete er schwitzend den Schlagbaum und winkte Luka Boŝković hindurch. Der Udba-Agent fuhr noch einige Kilometer den Pass entlang, kam an der Katholischen Pfarrkirche St. Leonhard vorbei, drehte um und parkte den Wagen vor dem Portal. Er stieg aus und ging zur Kirche hinüber, den Stein „Luz“ in den Händen, rüttelte an der Tür, trat sie ein, ging durch den dunklen Innenraum und legte den Stein auf den Altar. Dann kniete er davor nieder, mit einer dunkelblauen Hand nach seiner Pistole greifend, die andere dunkelblaue Hand an den geöffneten Mund gepresst. Dort begann der unbarmherzige Luka Boŝković an seinem Handrücken zu nagen, riss mit den Schneidezähnen die Haut auf, biss in das darunter liegende Fleisch und kaute auf den Sehnen. Speichel und Blut liefen ihm den Unterarm hinunter. Dann feuerte er zweimal mit seiner Pistole: mit der ersten Kugel auf den Heiligen Geist im Fenster (der keine Taube war und kein Licht, sondern eine weiße Scheibe, zu Glas geronnene Milch), mit der zweiten Kugel sich in den Kopf.
Am nächsten Morgen betrat Pfarrer Friedrich Wilhelm Stutz die Kirche und entdeckte die Leiche des Luka Boŝković. Er bekreuzigte sich und stieg über den Körper, um zum Altar zu gelangen. Dort fasste er unter seine Soutane, wickelte den Stoff um den Stein und verließ die Kirche wieder. Draußen warteten bereits alle einundzwanzig Mitglieder des örtlichen Chapters eines in ganz Westeuropa verbreiteten Motorradclubs mit Namen „Fomori MC“ auf ihren röhrenden Maschinen, darunter der Road Captain, der Treasurer, der Sergeant-at-Arms, der Secretary, einige Prospects, einige Hangarounds sowie vier Nomads  – und natürlich die Zwillingsbrüder Bronislaw und Bogumil Dialek, ihres Zeichens Vice President und President des „FOMCAT“ („Fomori Motorcycle Club Alpine Territory“), zwei dicke Männer mit langen, braunen Bärten, Sonnenbrillen und schwarzen Motorradhelmen auf dem Kopf. Clubmitglied war außerdem ein Mann namens Günther Brunnthaler, genannt „Bär“, der aber gar nicht wie ein Bär aussah, sondern lang und dürr war und das Gesicht einer Taube besaß – als Grenzschutzbeamter war er dabei gewesen, als der Udba-Agent Luka Boŝković nach Österreich durchgewunken wurde, und hatte wenige Minuten später seinen Clubpräsidenten verständigt, dass etwas Übles über die Grenze gekommen sei. Und der Geistliche, der sich vor allem und jedem fürchtete, hatte den Clubpräsidenten, mit dem er einstmals zur Schule gegangen war, verständigt, nachdem er den unbekannten Wagen mit jugoslawischem Kennzeichnen vor seiner Kirche hatte stehen sehen. Nun überreichte Pfarrer Stutz den Stein „Luz“ an Bogumil Dialek, President des alpinen Chapters des Fomori MC, und als sich President und Vice President auf ihre Maschinen schwangen und davonbrausten, gefolgt von den anderen neunzehn Teufelskerlen, da flüsterte der Pfarrer: „So fahrt mit Gott, ihr gottverfluchten Hunde.“       
„Und jetzt, Bogumil?“ fragte Bronislaw Dialek, Vice President des Fomori MC. Die stimmberechtigten Members, ohne Prospects und Hangarounds, hatten sich im Versammlungsraum der „Höllischen Zuflucht“ zusammengefunden, dem Clubhaus, das sich außerhalb von Klagenfurt am Rande eines Waldes befand. Sie saßen um einen breiten Tisch herum, in dessen Mitte der Stein „Luz“ lag, artig und schön.
„Was meinst du, Bronislaw?“ fragte Bogumil Dialek, der President.
„Ich meine den Stein, Bogumil“, sagte Bronislaw.
„Was ist denn damit, Bronislaw?“ fragte Bogumil.
„Was hat es mit ihm auf sich, Bogumil?“ fragte Bronislaw.
„Er ist ein Zeichen, Bronislaw“, sagte Bogumil.
Die anderen Members schwiegen und starrten ihre beiden Oberhäupter an, die nebeneinander an der Spitze des Tisches saßen und sich während ihres Gesprächs keines Blickes würdigten.
„Ein Zeichen, Bogumil? Wofür denn?“ fragte Bronislaw.
„Das weiß ich nicht, Bronislaw“, sagte Bogumil.
Jemand hustete. Einem anderen quietschte ein leiser Furz durch die Unterhose.
„Wie? Warum weißt du es nicht, Bogumil?“ fragte Bronislaw, dem langsam heiß wurde.
„Ich weiß es nicht, Bronislaw. So ist das eben“, sagte Bogumil.
Staubkörnchen wehten zärtlich in dem durchs Fenster hereinfallenden Licht. Wildschweine grunzten von fern. Peter „Pitti“ Haller, der Sergeant-at-Arms des Clubs, dachte an einen Adler mit grünem Gefieder, an einen tosenden Wildbach, an eine junge Frau, die mit ernstem Gesicht aus einem gigantischen Haufen Schaum herausguckte. Ein Eichhörnchen fiel tot aus einer Tanne und machte ein leises Geräusch auf dem Flachdach der „Höllischen Zuflucht“. Road Captain Lutger Wollberg, Spitzname „Fünfter apokalyptischer Reiter“, hielt sich einen Moment lang für einen einsamen, nackten Kirschkern in einer Wüste aus Eis. Der Wind ging ums Haus wie ein Zauber.
„Mein Bruder“, sagte Bronislaw laut und stand auf.
„Mein Bruder“, sagte Bogumil laut und stand auf.
„Als Vice President des Fomori MC Alpine Territory fordere ich dich auf: Gib mir den Stein“, sagte Bronislaw.
„Als President des Fomori MC Alpine Territory fordere ich dich auf: Setz dich hin und halt die Fresse“, sagte Bogumil.
Die anderen Members sahen sich verstohlen in die Augen. Einige griffen sich an die Hosen, um sich zu kratzen oder ihre Pistolen zu entsichern.
„Das Leben ist wie das Tote Meer“, flüsterte der Treasurer des Clubs, Heiner Hagestolz, genannt „Diesel“, vor sich hin. „Oder: Das Tote Meer ist wie das Leben. Ach, was weiß ich denn schon, ich armer, armer Tropf.“
„Ein Zeichen, Bogumil“, sagte Bronislaw, „ist etwas, das beachtet werden muss. Wenn es nicht beachtet wird, ist es nichts wert. Hast du das nicht verstanden, Dummkopf?“
„Du, Bronislaw“, sagte Bogumil, „kannst mich mal am Arsch lecken, hörst du?“
Bronislaw drehte sich zu Bogumil.
„Ich kann dich mal am Arsch lecken?“ fragte Bronislaw.
Bogumil drehte sich zu Bronislaw.
„Ja, das kannst du gerne tun“, sagte Bogumil.
Darauf folgte ein vollendetes Blutbad, das nur zwei der im Raum anwesenden Personen überlebten, ein Blutbad, bei dem neben allerhand Schusswaffen auch Baseballschläger, Peitschen, Stuhlbeine, Äxte, ein Wikinger-Rundschild, Nunchakus, Säbel und Handgranaten zur Anwendung kamen, ein Blutbad, bei dem zwei Wände des Clubhauses entzweigeschlagen wurden, ein Blutbad, das der Gegend um die „Höllische Zuflucht“ noch Jahre später einen leichten Gestank nach verbranntem Leder bescherte, ein Blutbad, das die Erde, das Gras und die Steine rot färbte, ein Blutbad, bei dem im Zuge der Zerstörung der Inneneinrichtung sämtliche Bier- und Schnapsvorräte in den Boden sickerten, ein Blutbad, das unbeschreiblich bleiben muss und mit Worten nur angetastet werden darf, da es aus Bildern bestand, furchtbaren, makellosen, heiligen Bildern.
‚So ein Gemetzel habe ich noch nie gesehen‘, musste sich der Bundesgendarm Helmut Kanter eingestehen. ‚Ich habe noch nie, nein, niemals!, so ein übles Gemetzel gesehen. Dies ist das Haus des Todes. Hier hat der Tod pompös Einzug gehalten, ein ausuferndes Bankett veranstaltet, für das es keine Worte gibt, und ist mit Pauken und Trompeten zurück in die Unterwelt gefahren. Dies ist sein Haus, sein unermessliches Haus, sein unaussprechliches Haus.‘ So dachte Helmut Kanter, als er durch die drei Räume der „Höllischen Zuflucht“ ging, drei Räume voller Körperteile, Blut, Urin, Scheiße und Tränen. Im Versammlungsraum entdeckte er einen bläulich schimmernden Stein auf einer von Axtschlägen malträtierten und mit Kotze und matschigem Gehirn bekleckerten Tischplatte. Neugierig betrachtete Kanter den Stein, sah sich nach den Kriminaltechnikern um, die im Moment jedoch draußen standen, plauderten und rauchten, und steckte ihn in die Tasche seiner Uniform. Als er aus der Tür trat (die es nicht mehr gab, denn die Tür war aus den Angeln gehoben und aufs Dach geworfen worden), fuhren gerade die beiden Krankenwagen ab, die die zwei Überlebenden nach Klagenfurt transportierten (ein schwer verletzter Prospect namens Radi, der sich im Vorraum aufgehalten hatte und in den Kühlschrank flüchten konnte, und Vice President Bronislaw Dialek, der seinem Bruder Bogumil mit einer silbernen Sichel den Schädel gespalten hatte). Helmut Kanter verabschiedete sich von allen Anwesenden (in Gedanken verabschiedete er sich auch von den zerteilten und durchsiebten Toten), fuhr ins Revier, machte sich einige Notizen zu einem Bericht, den er erst am nächsten Tag verfassen würde, und fuhr nach Hause. Dort angekommen schenkte er seiner sechzehnjährigen Tochter Renate den Stein, die nicht recht wusste, was sie damit anfangen sollte und ihn in irgendeiner Ecke ihres Zimmers liegen ließ.
Renate Kanter beachtete den Stein „Luz“ nicht. Vielleicht hat ihr diese Ignoranz das Leben gerettet. Für etwa fünfzehn Jahre befand sich der Stein in ihrem Besitz: eine Zeit lang lag er arglos in einem Regal herum, diente der Hausziege „Persephone“, die auf dem Grundstück der Kanters ein friedliches Dasein fristete, als Leckstein (jedoch nur für kurze Zeit, da die Ziege alsbald begann, einfache Worte zu sprechen, bläuliche Milch zu geben und innerhalb eines Jahres dreizehn Zicklein mit menschlichen Augen gebar, ohne befruchtet worden zu sein), musste neben der Haustür als Versteck des Ersatzschlüssels herhalten (ein Schlüssel, der immer wieder wie von Zauberhand verschwand, nachdem ihn jemand unter den Stein gelegt hatte), war mal Briefbeschwerer, Türstopper oder Fensterbrettzierde. Während der Anwesenheit des „Luz“ in der Familie Kanter entwickelte Tochter Renate eine überbordende Faszination für Computer und deren Programmierung und beschäftigte sich inbrünstig mit den Überlegungen des britischen Mathematikers, Logikers und Kryptoanalytikers Alan Turing, einem Vordenker auf dem Gebiet der „Künstlichen Intelligenz“. Seit dem Erwachen dieses Interesses weigerte sich Renate, ihr Elternhaus zu verlassen, ging nicht mehr zur Schule, zog in den Keller und richtete sich dort eine Werkstatt samt Bibliothek ein, in der sie Dutzende Computer miteinander verschaltete (und, wenn man so will, das Internet erfand) und eine Vielzahl von Programmen für Buchhaltung, Text- und Bildverarbeitung, die Speicherung und Archivierung größerer Datenmengen und die Erstellung von Anagrammen, Pangrammen, Leipogrammen und Palindromen erschuf. Mitte der 1980er Jahre begann sie sich für den Ersten, Zweiten und alle möglicherweise nachfolgenden Weltkriege zu begeistern. In ihrer Bibliothek studierte sie den Ablauf bedeutender Offensiven und Defensiven, die Biografien der großen Kriegsherren, unzählige Strategien, Finten und Operationen, um schließlich ihre beiden Vorlieben in einem Projekt zu vereinen, das ihren Weltruhm begründen sollte: Sie programmierte ein strategisches, rundenbasiertes Computerspiel namens „Renate Kanter’s Fight Or Wait until the Battle is Over!“, das eine Schlacht mit mehreren tausend Infanteristen und Militärfahrzeugen minutiös simulierte, speicherte das Spiel auf Diskette und bot es über eine Zeitungsannonce für achthundert Schilling pro Stück zum Verkauf an. Das Programm wurde zum Renner und zog eine ganze Reihe ähnlicher Titel nach sich, die sich mal im Schauplatz, mal im historischen Hintergrund unterschieden, die Spielmechanik jedoch nicht grundlegend änderten, vor allem in den USA zu Verkaufsschlagern wurden und kampfeslustige Titel trugen wie „Renate Kanter’s The Last Contingent“, „Renate Kanter’s Continents in Fire“, „Renate Kanter’s The Tank with the Blue Eyes“, „Renate Kanter’s Rattattattattatt!“, „Renate Kanter’s In the Name of Steel“, „Renate Kanter’s The Seven Blazing Seas“ und „Renate Kanter’s Guns, Guns, Guns!“ Bis ins hohe Alter von 83 Jahren tat die stille, freundliche Renate Kanter nichts anderes als diese Spiele zu programmieren, und selbst ihr letztes Werk „Renate Kanter’s Heaven is a Quiet Place. Earth Not!“, das sie wenige Wochen vor ihrem Tod fertigstellte, verschickte sie eigenhändig an die Adressen ihrer zahlreichen Fans in aller Welt. Und „Luz“, der bläulich schimmernde Stein mit der verwegenen Vergangenheit? Der war eines Tages vom Grundstück der Familie Kanter verschwunden, ungesehen und still, und sollte nie mehr nach Österreich zurückkehren.
Im November 1989 erhielt Marianne Evita Blumenau, Chefredakteurin der Illustrierten „Das wahrhaftige Auge“, einer Schwesternzeitschrift des Boulevardblattes „Bunter Superblitz“, einen Anruf. Am anderen Ende der Leitung erzählte ihr eine verzerrte Stimme über Stunden hinweg von einer Jahrhunderte alten, geheimen Gesellschaft, die einen großen Vorrat an blauen Steinen besäße, Steinen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die den Menschen das Glück oder den Tod oder beides auf einmal brächten. Diese Gesellschaft, deren Namen der Anrufer nicht kannte, obwohl er sie während des Gesprächs ab und zu „Gemeinschaft des Eises in der Dämmerung“ nannte (ein Name, den er ihr wohl selbst verpasst hatte), würde seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts (vermutlich aber viel früher) ihre Steine überall auf der Welt verteilen und aus wissenschaftlichem Interesse, eher aber aus teuflischer Neugier beobachten, welche Auswirkungen diese Steine auf lebende Menschen hätten. Der Anrufer sprach auch viel von sich selbst, behauptete, zu Fuß von Großstadt zu Großstadt zu ziehen, in den Wäldern und Gebirgen zu leben und alle Tiere für die besseren Lebewesen auf diesem Planeten zu halten, weil sie im Gegensatz zu den Menschen frei von allen Zweifeln seien; außerdem sei er an verschiedenen Orten unter den Bezeichnungen „Der Zeitreisende“, „Der Staubige“, „Der Sandmensch“ oder „Der unverwüstliche Wanderer“ in der Bevölkerung bekannt, und vielleicht habe sie, Marianne Evita Blumenau, ja schon von ihm gehört (hatte Marianne Evita Blumenau, von Freunden, Liebhabern, Feinden und Erzfeinden MEB genannt, nicht); und außerdem, das sei ja die Sensation!, habe er in der Nähe von Klagenfurt solch einen Stein in seinen Besitz bringen können, ein ganz erstaunliches Ding, mit dem man vielleicht sogar die Veränderung von Zeit und Raum oder zumindest die Illusion dieser Veränderung herbeiführen könne. Zum Schluss ließ er sich zu der Bemerkung herab, einzelne Mitglieder der „Gemeinschaft des Eises in der Dämmerung“ würden sich stets in der Nähe eines der Steine aufhalten, getarnt als Bekannte, Arbeitskollegen, Nachbarn oder Familienmitglieder des aktuellen Besitzers, als Polizisten, Handelsreisende, Lokalpolitiker, Krankenhausmitarbeiter, Pfarrer oder Taxifahrer, Schattenmänner und Schattenfrauen, vielleicht sogar, Gott schütze uns!, Schattenkinder, alles in allem eine unheimliche Bande von skrupellosen Erkenntnissüchtigen, denen auf gar keinen Fall zu trauen sei, niemandem von ihnen. Nachdem der Anrufer sich verabschiedet hatte (er benutzte dafür das befremdliche Wort „Tschüsselchen!“), vergaß MEB ihn recht schnell, denn nur Minuten später erhielt sie einen weiteren Anruf, diesmal von einem ihrer Reporter, der ihr mitteilte, dass sich ein Mann namens Hansjürg Trilli an ihn gewandt hatte, der von sich selbst behauptete, der einzige Parapsychologe und Ufologe der gerade untergehenden DDR zu sein, und dieser Trilli sei wohl im Besitz von Beweisen, die belegen, dass die SED-Regierung seit Jahrzehnten Kontakte zu Außerirdischen pflege, insgesamt also eine weitaus gehaltvollere Story für die Illustrierte „Das wahrhaftige Auge“, die sich als das ultimative Leitmedium aller Grenzwissenschaftler, Verschwörungstheoretiker und Alternativmediziner verstand.  
An Bord des Nachtfluges Paris – New York City am 4. April 1994 befand sich auch Herschell Brown, Sänger der erfolgreichen Grunge-Band „The Immortal Office“, zusammen mit seiner Freundin Violette McCornish, Schlagzeugerin bei den Punkrockern von „The Conquerors“. Die gesamte Flugzeit über war Brown nervös, knisterte unermüdlich mit einer Plastiktüte, und zwang einem anderen Passagier ein Gespräch auf, das sich in etwa so abspielte:
Brown sagte: „Hallo.“
Der Passagier sagte: „Guten Abend.“
„Ich heiße Herschell Brown und bin ein Musiker.“
„Ich bin der Zeitreisende, ein Wanderer, der vor dem Staub flüchtet, der ihn einst verschlucken wird. Ich weiß ja, ich weiß, dies ist mein Schicksal, aber ich will mich nicht fügen.“
„Wirklich? Waren Sie mal im Mittelalter?“
„Nein.“
„Waren Sie mal in der Steinzeit?“
„Nein.“
„Schade. Haben Sie Luthers Reformation erlebt? Den Prager Fenstersturz? Die Abschließung Japans? Den Aufbruch in den Wilden Westen? Die Deutsche Reichsgründung? Die Weltwirtschaftskrise?“
„Nein. Nichts davon habe ich selbst erlebt, aber im Fernsehen habe ich Berichte über einige dieser Ereignisse gesehen, gut gemachte Berichte, in denen erfahrene Schauspieler historisch korrekte Kostüme trugen und sich genauso verhielten wie die Leute, die damals lebten. Sehr beeindruckend und sehr lehrreich.“
„Dann sind Sie aber kein Zeitreisender, sondern ein jämmerlicher Idiot, der keine Ahnung hat.“
„Wenn Sie meinen.“
„Waren Sie mal …?“
„Lassen Sie mich jetzt bitte in Ruhe, ja? Sie haben mir gerade sehr weh getan.“
Des Weiteren beschimpfte Herschell Brown den Flugkapitän als „Verbrecher“, „Muttersöhnchen“ und „Lump“, der „unfähig“ sei, „ein Flugzeug zu fliegen“, forderte lauthals den Copiloten auf, sofort das Steuer zu übernehmen, forderte sogar ein drei Reihen weiter vorn sitzendes Kind auf, sofort das Steuer zu übernehmen, nervte das Bordpersonal mit zahlreichen Bestellungen von Essen und Alkoholika, und irgendwann stierte er fluchend und mit den Zähnen knirschend aus dem Fenster in die Nacht hinaus, auf einen Punkt in der Ferne, den es nicht gab. Als Violette McCornish erwachte, nachdem sie vor dem Flug zu viel White Russian getrunken und über Stunden hinweg in ihr Nackenkissen geschnarcht hatte, und Brown liebevoll an der Schulter berührte, sprang der Musiker auf, stolperte in den Gang und öffnete die Klappe des Handgepäckfaches über ihren Köpfen. Dort lag, im hintersten Winkel des Faches, ein Stein, schwarz mit bläulichem Schimmer, und Herschell Brown drohte ihm mit dem Finger und sagte: „Lass mich bloß in Ruhe, du kleiner Scheißer, ich lasse mir von dir doch nicht alles kaputtmachen, hörst du, hörst du, ich sagte, du sollst mich in Ruhe lassen, hörst du, hörst du, du grausamer, arroganter, winziger Scheißer du, ich hasse dich, jawohl, ich hasse dich, das kannst du mir glauben, schau mich nicht so an, sag ich dir, schau mich bloß nicht so an, hörst du, hörst du, hörst du mir überhaupt zu?“ Und dann presste er die Fäuste an die Augen, und seine Stimme schlug in einen wehleidigen Singsang um, doch die Sprache, die Brown benutzte, war nicht von dieser Welt, und vielleicht war sie nicht einmal aus diesem Universum, und als er genug geklagt hatte, beschloss er, Violette darum zu bitten, mit ihm auf der Flugzeugtoilette zu vögeln, nicht weil er gerade Lust darauf bekommen hatte, sondern weil er sich fürchtete, und er setzte sich wieder neben seine Freundin und lächelte sie an, doch als Violette McCornish die Augen öffnete, da sah Brown, dass ihre Augen zwei winzige schwarze, bläulich schimmernde Steine waren, und er begann zu schreien, schrie sich die Seele aus dem Leib, und sein Geschrei füllte den Kabinenraum wie ein heraufziehender Nebel, und endlich, nach Minuten des hemmungslosen, verzweifelten Schreiens, sackte Herschell Brown ohnmächtig in sich zusammen. Unbehelligt schoss die Maschine weiter durch die Nacht, zehntausend Meter unter ihr die titanischen Wassermassen des Atlantiks, das im Schlaf flüsternde Ungeheuer, absolut und unberechenbar und verschlossen wie der Tod.
In den folgenden Jahren erlebte der Musiker Herschell Brown sein Leben als einen unwiderstehlichen Sog, der ihn mehr und mehr in den trockenen Abgrund des Alters und der Krankheit zog. Im Januar 2008, die Band „The Immortal Office“ war längst vergessen, und Violette Brown hatte ihren Nachnamen wieder in McCornish geändert und sich für die illusorische Beständigkeit einer Schauspielkarriere entschieden, ließ sich der alternde Rockstar auf eine lediglich wenige Tage, wenn nicht gar nur Stunden währende Affäre mit Britney Spears ein. Nachdem die Polizei die verrückt gewordene Popsängerin eines Nachts aus ihrer von Helikoptern, Feuerwehr- und Krankenwagen belagerten Villa in Los Angeles, Kalifornien, holen musste, in der sie sich mit ihren beiden Kindern verbarrikadiert hatte, entdeckten Experten der Spurensicherung, drei grobschlächtige Kerle, die die ganze Zeit über bösartige Witze rissen und sich völlig daneben benahmen, in ihrem Wandschrank einen kleinen schwarzen Stein, der unnatürlich blau schimmerte, und steckten ihn in eine durchsichtige Plastiktüte. Auf der Fahrt zurück zum Revier entschieden sie sich jedoch gegen die Mühe, diesen blöden Felsklumpen als Beweismittel (Wofür nur, Scheiße, wofür?) in ihren Bericht aufzunehmen. Als sie an einem unbebauten Gelände vorbeikamen, das wie ein weitläufiges Grab inmitten von niedrigen, schäbigen Häusern lag, warf einer von ihnen den Stein aus dem geöffneten Autofenster, und sie fuhren kichernd davon, die Gesichter im Schein der Straßenlaternen wie Masken, die eine unverständliche Tragödie zum Weinen gebracht hatte.
Dort am Straßenrand fand ihn ein Tourist, der nur unter dem Namen E. Rosenau bekannt ist, ein passionierter Hobbygeologe und Steinesammler, und brachte ihn als Souvenir in seine Heimat, das mit einer berauschenden Landschaft gesegnete deutsche Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Dort ließ sich E. Rosenau bei seiner Landärztin Helena Hainichen, die einen Patientenstamm von etwa 150 meist älteren Menschen besaß, eine Bronchitis behandeln (ein weiteres Mitbringsel seiner Amerikareise). Den Großteil der Patienten betreute Dr. Hainichen seit vielen Jahren – und einigen hatte sie mehr als einmal tief ins Herz geblickt, weshalb sie in der Region eine äußerst hohe Beliebtheit genoss. Nachdem E. Rosenau ihr eines Tages stolz den Stein gezeigt hatte, befand die eigentlich gutmütige Dr. Hainichen noch am selben Abend, dass es nun an der Zeit wäre, all ihre Patienten umzubringen. Nach nur einem Jahr hatte sie weit über vierzig der arglosen Kranken in der Landarztpraxis vergiftet, während intensiver Gesprächssitzungen zum Selbstmord aufgefordert, ihnen zuhause aufgelauert und sie dort erschlagen oder in der Nacht ihre Wohnhäuser angezündet sowie sich auf der Rückbank ihrer alten Autos verborgen und ihnen in den Hinterkopf geschossen, ehe die Kriminalpolizei ihr endlich auf die Schliche kam. Im darauffolgenden Prozess, den alle großen europäischen Medien lustvoll begleiteten, erklärte eine Heerschar von Gutachtern Dr. Hainichen einhellig für „schuldunfähig“, worauf die Verurteilte, die während der Verhandlungen kein einziges Wort gesprochen und meist nur ein wenig verwundert dreingeblickt hatte, alsbald in den Tiefen einer norddeutschen Klinik für Forensische Psychiatrie verschwand.
Hinter vorgehaltener Hand wird noch heute erzählt, dass sich der brave E. Rosenau (der dem Gewaltrausch seiner Hausärztin nicht zum Opfer fiel) wenig später mit einigen mächtigen Männer in der Region einließ, Angehörigen der Lokalpolitik und des Militärs sowie einflussreichen Kulturschaffenden und Funktionären ansässiger Wirtschaftsunternehmen, die, so munkelt man, ihm entweder ein ordentliches Tauschgeschäft anboten, ihm ein gehöriges Schweigegeld zahlten oder ihn einfach in der Ostsee versenkten. Jedenfalls verschwanden E. Rosenau und der vor vielen, vielen Jahren auf den Namen „Luz“ getaufte, schwarze Stein mit dem merkwürdig blauen Schimmer von der Bildfläche, als hätten sich beide, nach all den Strapazen und Freuden in der Vergangenheit, in der von Langeweile und Kälte geprägten Gegenwart aufgelöst, einfach aufgelöst, um dieser insgesamt doch recht schrecklichen Welt ein für alle Mal fernzubleiben und erst zu ihr zurückzukehren (aus Trotz oder Bosheit), wenn ihnen beiden, oder zumindest einem von ihnen, der Zeitpunkt als geeignet erschien.

Donnerstag, 22. November 2012

Sonntag, 18. November 2012

Ins Laute


Die Fragen laut stellen,
mit der Hand –
ein Gerät – bin ich
zwischen dich
und mich 
geraten.

„Du, auch wenn es mir schwerfällt, das zu sagen –“

Das steht alles da, was, unzählige,
stumm
wie ich:
Aber ich bin hier
und habe mich zu dir gestellt.

"Wenn ich mich vorstellen darf –“

Laut, ins Laute, das heißt
in den Dienst
einer Sache. Sich verstellen, 
verraten, doch nicht
vergessen
wofür. Dafür bin ich
Zeit meines Lebens
gewesen.


Jetzt
muss alles was war
neu wieder
von vorne beginnen.

Mittwoch, 14. November 2012

Morgen


Das wird ein teurer Einsatz
Rund 7000 Münchner mussten heute erfinderisch sein
Im Norden
Niemand

Ein besorgniserregendes Anzeichen
Direkt am Platz
Entschieden
Betroffen

Was sie wollen
Das war der Hintergrund
Eine Sendung
Vielfach
Höher
Sonnig in Ost West

Heute


Für einen kontrollierten Neuanfang
Mitschuld
Absicht
Forderung

Kein Zugang
Planung
Ungewollt Gesenkt
Wenn das gewünscht wird

Montag, 12. November 2012

AUFTAKTREDE BEIM ERNST-JANDL-SYMPOSIUM:
SIGMAR GABRIEL KASSIERT 20.000 EURO CA$H


Sonntag, 11. November 2012

Sein Roß steht still beim armen Mann.

Freitag, 9. November 2012


Ich sehe das graue Jackett des Schriftstellers Pierluigi Montalbán, und ich sehe, wie die langen Finger des Schriftstellers Pierluigi Montalbán einen weißen Fussel vom Stoff des grauen Jacketts zupfen. Das Theater „Abyssus“ ist zur Hälfte mit Passagieren gefüllt, die nach vorn zur Bühne blicken, wo der Schriftsteller Pierluigi Montalbán auf einem Hocker aus der Bar „Herrlichkeit der imperialen Landschaft“ sitzt, mit aufgeschlagenem Buch auf dem Schoß, und zurück ins Publikum schaut mit einem Ausdruck im Gesicht, als würde er die Welt nicht mehr verstehen. Ein Mitarbeiter der Reederei „Hargenau & Robertson“ erhebt sich von seinem Sitz in der ersten Reihe und spricht zu den Gästen, ich sehe ihn und seinen Mund von der Loge aus, wie er auf und zu und auf und zu geht. Dann setzt er sich wieder, die Leute applaudieren, der Schriftsteller Pierluigi Montalbán holt tief Luft und beginnt aus seinem Roman „Das Stellwerk“ zu lesen. Seine Stimme heult wie ein Sturm. Der Schriftsteller Pierluigi Montalbán liest einen komplizierten Abschnitt, der weder gut ausgearbeitete Figuren noch Naturbeschreibungen noch humorvolle Anekdoten enthält, ein einziger quälender Satz, der die Demokratie verteufelt, der westlichen Zivilisation mit dem Untergang droht, den Präsidenten und Ministern aller Republiken auf der Welt eine tödliche Krankheit wünscht, minutiös die optimale Hinrichtung von zwanzig Beamten erklärt, den Bau einer großen Fabrik beschreibt, die es ermöglicht, alle Bewohner der führenden Industrienationen zu Rotwurst zu verarbeiten, die Umgestaltung der Parlamente zu Elefantenhäusern oder Bordellen anregt und den gleichzeitigen Abschuss ausnahmslos aller Atomraketen fordert, um den Mond zu zerstören. Der Schriftsteller Pierluigi Montalbán klappt das Buch zu, hebt den Kopf und blinzelt in das Licht der Scheinwerfer hinein, kneift die Augen zusammen, als suche er jemandem in der Dunkelheit des Theaters, schwitzt und atmet schwer dabei. Das Publikum ist verärgert, einige Leute sind bereits gegangen, andere sind auf Krawall aus und fangen an, herumzuschreien. Der Schriftsteller Pierluigi Montalbán scheint kein Mensch zu sein, dem Abneigung nichts ausmacht. Er rutscht vom Hocker, hebt die Hände und will sich erklären, beendet aber seine Sätze nicht, verhaspelt sich und erzählt irgendetwas, das niemand versteht. Die Leute kochen und schlucken ihren Ärger hinunter, aber nur unter Vorbehalt, denn beim kleinsten Fehltritt dieses verrückten Schreiberlings werde man noch schlimmer als zuvor schimpfen und den ganzen Saal auseinandernehmen, ruft ein alter Mann und droht mit dem Zeigefinger. Der Schriftsteller Pierluigi Montalbán streckt den Rücken durch, greift sich mit der rechten Hand in den linken Ärmel seines grauen Jacketts und zieht den Zipfel eines blauen Tuchs hervor, zieht und zieht, das Tuch ist lang, sehr, sehr lang, und entfaltet sich wie ein Segel, in das der Wind hineinbläst, die ersten Leute klatschen und rufen „Bravo!“, der Schriftsteller Pierluigi Montalbán rupft immer schneller und schneller das Tuch aus seinem Jackett, die Leute im Parkett springen auf und greifen sich an die Köpfe, das Tuch bedeckt jetzt schon die gesamte Bühne, wirft Falten, bauscht sich auf, wogt über den Boden und schließlich verschwindet auch der Schriftsteller Pierluigi Montalbán darunter, die Leute schreien und trampeln, da blenden Scheinwerfer auf und erhellen den ganzen Saal, dass es in den Augen schmerzt, alles ist auf einen Schlag still, die Umrisse des Schriftstellers Pierluigi Montalbán stürzen in sich zusammen, die Wellen des Tuchs glätten sich, ruhig liegt es nun da, nichts befindet sich mehr darunter, die Leute klatschen und pfeifen und gehen hinaus, ich folge ihnen, wir schwanken vergnügt.