Luz
Die Ursprünge der Greifswalder
Geheimgesellschaft „Orden des Luz“, auch „Luzorden“ genannt, liegen verborgen
in einem Dickicht aus Mutmaßungen, Behauptungen, unverhohlenen Lügen und dummen
Irrtümern, und nur wenig Gesichertes gibt es über Vergangenheit, Struktur und
Zweck des Ordens zu sagen, kurz: Die Geschichte des Luzordens ist eine
Ansammlung von üblen Merkwürdigkeiten, die aufgrund ihrer Blutigkeit nicht
anders als religiös zu bezeichnen sind, und niemand, der bei Verstand ist,
sollte dieser Geschichte leichtfertig Glauben schenken. Historiker gehen davon aus, dass
der Orden im ausgehenden Mittelalter unter dem Namen
„Hohelied-Bruderschaft am Rande der See“ firmierte und sich rein karitativen
Aufgaben widmete, also die Armen speiste, die Kranken pflegte und die
Verrückten in Sicherheit brachte. Nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges
sorgten sich die Ordensbrüder um ein harmonisches Miteinander mit den
schwedischen Besatzern; die Gemeinschaft war damals unter dem Namen
„Zweckmäßige Eintracht von großer Ehre und Aufrichtigkeit im Schwedentum“
bekannt, und genau genommen verhielten sich ihre Mitglieder den Schweden
gegenüber wie speichelleckende Kollaborateure. Mit Beginn der imperialistischen
Bestrebungen europäischer Großmächte änderte sich auch das Wesen des Ordens: Als
in ganz Mitteleuropa gefürchtete „Königsgemeinschaft des Heiligen Sturms“
propagierten die Brüder nun den Willen zur totalen Expansion und die
rücksichtslose Unterdrückung des Schwachen durch den Starken. Aufklärung und
Freimaurerei führten zu einer kurzen Rückbesinnung des Ordens, der sich im
ausgehenden 18. Jahrhundert als „Lächelnde Loge“ darum bemühte, ein weder
friedliches noch feindliches Zusammenleben aller Völker herbeizuführen. Das
Auftauchen eines geheimnisvollen Gegenstands, dessen Art und Wirkung schnell
zum zentralen Glaubensinhalt der Bruderschaft wurde, führte schließlich wieder
zu einer Verkümmerung der Ordensideale, eine Verkümmerung, die mit Gewalt,
Machtgier und Humorlosigkeit einherging und somit paradigmatisch ist für ein 19.
Jahrhundert, das all die Herrlichkeit und die Grausamkeit der Moderne
vorausnahm: Am Beginn dieser lückenhaften Kette von Berichten, die die letzte
Entwicklung des Luzordens eher verdunkelt denn erhellt, steht ein von allerlei
Ängsten gepeinigter Alchemist namens Leandro Angelosanto, der 1873 im
österreichisch-ungarischen Fiume, dem heutigen kroatischen Rijeka, geboren
wurde und im Alter von zwanzig Jahren nach Venedig fliehen musste (aufgrund
seiner immer hartnäckiger gewordenen Versuche, das Herz einer bereits
74jährigen, alleinstehenden Prinzessin zu erobern, die schließlich darin
gipfelten, dass Angelosanto den Kammerdiener seiner Angebeteten erschlug, einen
kämpferischen Kammerdiener, der die Unschuld seiner Herrin bis aufs Blut
verteidigte). Auf seiner Flucht verbarg er sich vor den kaiserlichen Häschern
im hintersten Winkel einer Höhle im Wald, unweit von Falkenberg, dem heutigen
italienischen Montfalcone. Dort stieß er auf einen einzelnen, bläulich
schimmernden Stein, der etwa die Größe zweier nebeneinanderliegender Fäuste
besaß, von Angelosanto auf den kraftvollen und unheimlichen Namen „Luz“ getauft
wurde und den weiteren Verlauf seines Lebens und den Verlauf des Lebens vieler
anderer Menschen auf entscheidende Art und Weise mitbestimmen sollte – so
behauptet Angelosanto es zumindest in seinen umfassenden autobiografischen
Schriften, die, angestrengt durch Benito Mussolini, später gesammelt unter dem
Titel „In einer Landschaft des Todes. Leben und Gedanken des Alchemisten,
Freiheitskämpfers und Geheimwissenschaftlers Leandro Angelosanto“ in fast ganz
Europa erschienen (außer in der Schweiz, da die Schweizer in den frühen 1930er
Jahren keinen Sinn für solcherlei martialische Heldengeschichten besaßen). In
Venedig führte Angelosanto das Leben eines Vagabunden, stellte wieder älteren
Frauen der Oberschicht nach (zumeist einer verwitweten Donna oder einer
abenteuerlustigen Kaufmannstochter) und ergab sich, wenn es dunkelte und er
allein in seiner Dachkammer saß, hingebungsvoll dem Stein „Luz“, den er die
ganze Nacht über küsste, ihm allerhand Fragen stellte (deren Antworten stets
dieselben waren: ein geheimnisvolles, stilles Schimmern des Gesteins in der
Finsternis) und mit seinen Tränen bedeckte, Tränen des Glücks und immer wieder
Tränen der Angst. Als glühender Verfechter des Ersten Weltkrieges verehrte
Angelosanto den Schriftsteller Gabriele D’Annunzio, einen größenwahnsinnigen
Symbolisten, Vertreter des Fin de Siècle und Vordenker des europäischen
Faschismus. Angelosanto und er bildeten in den späten Kriegsjahren ein
unzertrennliches Gespann: Angelosanto trat als esoterischer Berater D’Annunzios
auf, erstellte die „Eintausendeinhunderteins Luzischen Horoskope“ für seinen
Freund (absurde Vorhersagen, die der Alchemist aus einer stinkenden Rinderbrühe
ablas, in die er vorher den Stein getaucht hatte, und die bis zu eine Million
Jahre in die Zukunft reichten, eine Zukunft, in der der die Erleuchtung
erlangte Geist Gabriele D’Annunzios in einer riesigen Glühbirne fortlebt und
die Menschheit zu den Sternen führt und darüber hinaus, in eine Unterwasserwelt
außerhalb der universalen Hülle, wo alle Menschen wieder zu Fischen werden,
gigantischen, blutdurstigen Fischen des Krieges), ließ sich von ihm großzügig
aushalten und pflegte inbrünstig seine Eifersucht auf D’Annunzios zweiten
Vertrauten, den deutschen Universalgelehrten Karl Gustav Vollmoeller, den
Angelosanto hasste wie nichts auf der Welt. Doch während D’Annunzio als Soldat
begeistert in den Krieg zog und mit einem Flugzeug vom Typ SVA 10 Propagandablätter
über Wien abwarf („Das Drohen der Schwinge des jungen italienischen Adlers
gleicht nicht der finsteren Bronze im morgendlichen Licht. Die unbekümmerte
Kühnheit wirft über Sankt Stephan und den Graben das unwiderstehliche Wort,
Wiener! Viva l’Italia.“), fürchtete Angelosanto den eigenen Tod und versteckte
sich über Wochen hinweg in seiner weitläufigen Wohnung in Rom, das Licht
gelöscht, die Fenster verbarrikadiert, „Luz“, den heiligen Stein, wimmernd an
die bebende Brust gepresst. Im September 1919 schließlich versammelte
D’Annunzio zweitausendfünfhundert Freischärler, die Arditi, um die unabhängige
und von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs kontrollierte Stadt Fiume in
den italienischen Herrschaftsbereich zurückzuholen. Einige Historiker führen
die Idee zu diesem Himmelfahrtskommando auf Angelosanto zurück, dem davor
grauste, dass die Alliierten seine Heimatstadt dem Staat der Slowenen, Kroaten
und Serben einverleibten, ein aus dem zerschlagenen Österreich-Ungarn neu
formiertes Gebilde, das der verärgerte Angelosanto als „eine Bastelarbeit der
Entente! ein gemeiner Barbarenpfuhl! ein Narrenturm, entsetzlich!“ beschimpfte.
In einer für alle Anwesenden bewegenden Zeremonie überreichte Angelosanto
seinem Freund D’Annunzio sein Heiligstes, den „Luz“, auf dass der Anführer der
Arditi ihn mitnehme ins ferne Fiume, wo er über das Wohl aller in der Stadt
weilenden Menschen wachen solle, wenn schon Angelosanto aufgrund seiner
Todesfurcht selbst nicht mitkommen könne. Dann verließen die Truppen Italien. Drei
Tage später entschied sich Angelosanto, ganz grau vor Kummer und schier
verrückt vor Sorge um seinen Stein, den Arditi nachzureiten, durchquerte auf
seinem Ross „Gentilezza“ Latium und Umbrien, den Wind im Rücken, den
italienischen Wind, „der uns satt sein lässt, ohne dass wir gegessen haben, all
die Sorgenvollen und die Sorgenfreien gleichermaßen wissen lassend, dass alles
gut werden wird, einestags“. In der Emilia-Romagna, nicht weit von Ravenna, kam
er in einen Wald. Dort hauste eine Gruppe wilder Frauen, die sich als „Hexen
der Zukunft“ bezeichneten und die Bewohner der nahen Dörfer mit Heilsalben,
Glücksbringern und Potenzmittelchen aus Kräutern, Blut, Dreck, Schlangengift
und Tierfett versorgten, Schwangeren bei der Geburt zur Hand gingen, die Geister
rachsüchtiger Ahnen aus Kellern, Zwischenwänden, Dachböden und den Herzen der
verängstigten Nachfahren vertrieben sowie arglose Durchreisende überfielen,
beraubten und ermordeten. Mühelos zogen sie den schreienden Leandro Angelosanto
von seinem Pferd „Gentilezza“, schlitzten ihm mit kurzen Messern Brust und
Bauch auf, schlugen ihm mit Knüppeln den Schädel entzwei und verscharrten seine
Leiche unter einem Lorbeerstrauch (ein Ort, den Mussolini persönlich ausgemacht
haben wollte und einmal im Jahr besuchte, in tiefer Andacht versunken, ab und
zu einzelne Worte flüsternd, die niemand verstand). Die wenigen Wertgegenstände
(eine Taschenuhr, drei Ringe, ein Schlüssel aus Porzellan und ein winziges,
goldenes Flugzeug) behielten sie, verkauften sie oder warfen sie in einen nahen
Fluss. Währenddessen erreichten Gabriele D’Annunzio und die Arditi Fiume und
besetzten die Stadt am 12. September 1919. D‘Annunzios „Italienische
Regentschaft am Quarnero“ legitimierte ihn als Alleinherrscher, die Verfassung
„Carta del Canaro“ erklärte die Musik zum fundamentalen Prinzip des Staates,
dem „unbekannten Genius“ war eine von zehn eingerichteten Zünften geweiht.
Viele der in der Stadt lebenden Kroaten wurden vertrieben, die kroatische
Sprache verboten. D’Annunzio erfuhr von einem Boten, dass Angelosanto Rom
verlassen, aber verschollen sei; mit der unumstößlichen Gewissheit, seinen
Gefährten niemals wieder zu sehen, erklärte er, den Stein „Luz“ bis an sein
Lebensende vor den „Feinden der Freiheit“ zu verteidigen. Im Grenzvertrag von
Rapallo zwischen Italien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen
wurde indes festgelegt, die Stadt als Freistaat Fiume in die Unabhängigkeit zu
entlassen, eine herbe Enttäuschung für den kurzatmigen Regenten, der immer auf
eine Annexion der Stadt durch Italien gehofft hatte. Während der „Blutigen
Weihnacht“ 1920 mussten D‘Annunzio und seine Anhänger schließlich Hals über
Kopf vor den Truppen des italienischen Heeres aus der Stadt fliehen, nachdem er
großzügig Italien den Krieg erklärt und das italienische Schlachtschiff „Andrea
Doria“ als Antwort darauf seinen Palast beschossen hatte. Der Stein „Luz“ blieb
im Palast zurück, sicher verwahrt in einer mit Smaragden besetzten Schatulle,
die die Insignien der „Italienischen Regentschaft am Quarnero“ zierten: der
Ouroboros, die sich selbst in den Schwanz beißende Schlange, der Große Wagen am
roten Himmel über dem Adriatischen Meer, dazu die höflich zähnefletschende
Frage „Quis contra nos?“ – „Wer ist gegen uns?“
Gefunden wurden die Schatulle und
ihr kostbarer Inhalt von Umil Bubiĉ, einem Dieb, der von ähnlich zweifelhaftem
Charakter wie Leandro Angelosanto war, der jedoch niemals das Glück genießen
durfte, sein kurzes Leben in Reichtum und Müßiggang zu verbringen. In
irgendeiner der wahnsinnigen Nächte zwischen Weihnachts- und Silvesterfest 1920
war er in den geräumten Palast eingedrungen, während draußen die Schüsse der
Arditi und der Italiener durch die dunklen Straßen hallten. Umil Bubiĉ verstand
die peinlichen Wirrungen nicht, die Gabriele D’Annunzios Besetzung und die
darauf erfolgte Reaktion des Königreichs Italien auslösten, und er hatte nur
Spott übrig für solche Idioten aus Italien wie D’Annunzio oder Alceste De
Ambris, Anarchosyndikalist und Matrosenanführer, die sich für dieses stinkende
Drecksloch Fiume den Arsch aufrissen. Bubiĉ drang also in die Privatgemächer
des ehemaligen Potentaten ein und entdeckte unter dem herrschaftlichen Bett die
Schatulle. Der Anblick des „Luz“, dessen bläuliche Adern in dem schwarzen, auf
dunklem Samt gebetteten Gestein zu pulsieren schienen, löste einen plötzlichen
Zorn in ihm aus. Tränen liefen dem Dieb über die roten Wangen, schlimme Worte
wie „Verderben“, „Schärfe“, „Irrsinn“ und „Gewalt“ stürmten durch seinen
Verstand (lediglich die Worte, keine daraus evozierten Bilder), und mit den
Schneidezähnen biss er sich die Unterlippe blutig, als er den Stein in die Hand
nahm und durch das geschlossene Fenster hinunter auf die Straße schleuderte.
Die Schatulle, die ihm aufgrund ihrer goldenen Verzierungen als überaus
wertvoll erschien, klemmte er sich unter den Arm, verließ den Palast und traf
im Hof auf eine Gruppe betrunkener Arditi, die ihn mit Benzin übergossen und
anzündeten, eine Tat, die, so viel sei gesagt, von den Arditi aus Mitleid
begangen wurde, aus Mitleid mit sich selbst.
In den folgenden fünfzig Jahren
tauchte der Stein „Luz“ an mehreren Orten auf. Ungewöhnlich ist jedoch, dass er
erst im Jahre 1973 von einer Studentin der Ozeanologie genau an derselben
Stelle entdeckt wurde, wo er durch den beherzten Wurf des Diebes Umil Bubiĉ zu
Weihnachten 1920 eigentlich hätte aufschlagen sollen. Einige Leute,
insbesondere die Brüder des „Luzordens“, erklären diesen merkwürdigen Umstand
mit einem „freien Willen“ des „Luz“, sich ab und zu unabhängig von
physikalischen Beschränkungen durch Zeit und Raum bewegen zu wollen, an
außergewöhnlicheren Orten oder vielleicht auch weniger außergewöhnlichen Orten
als unserer Welt herumzutreiben, um anschließend an seinen vom Mahlrad des
Schicksals zugewiesenen Platz zurückzukehren, dem Seelenfrieden der Sterblichen
zuliebe.
1924 erschien er während der
feierlichen Gründung der Mongolischen Volksrepublik am Himmel über Ulan Bator,
und jeder, der sein Funkeln erblickte, winkte ihm ergriffen zu.
1936 entzündete der Leichtathlet
Fritz Schilgen während der Eröffnungsveranstaltung der Olympischen Sommerspiele
in Berlin die Olympische Flamme, und noch Jahre später behauptete er im engsten
Freundeskreis, in der Feuerschale habe ein bläulich schimmernder Stein gelegen,
der im Moment des Entzündens zu ihm gesprochen habe, aber bei all den
Jubelrufen und der Marschmusik hatte er, Schilgen, sein Gemurmel leider nicht
verstehen können.
Im Oktober 1945 entdeckte der Maler
Alfred Partikel auf seinem fast vollendeten Gemälde „Niobes trostloser Garten“
am rechten Rand, auf einem in düsteren Farben gehaltenen Radieschenfeld, einen
kleinen, blauen Stein, den er nicht dort hingemalt hatte. Partikel verließ
unverzüglich sein Häuschen im Ostseedorf Ahrenshoop, betrat ein Waldstück in
der Nähe und wurde nie wieder gesehen.
Mitte der 1950er Jahre kursierte in
westeuropäischen Bergsteigerkreisen das Gerücht, ein Schweizer Abenteurer
namens Ruedi Mase (oder Ruedi Maise oder Ruedi Meuse) hätte zwischen Hindukusch
und Karakorum ein weiteres Gebirge entdeckt, ein Gebirge aus bläulich
schimmerndem Gestein, eine, wie es in der Illustrierten „Bunter Superblitz“
hieß, „unfassbare Sensation“, die das Leben aller Menschen auf der Welt bis auf
Weiteres komplett verändere. Die Besitzerin des Revolverblattes, die
Hamburgerin Eleonore Kleinert, ehemalige Nazi-Spionin in London und Paris,
beauftragte 1957 drei ihrer Journalisten, den Abenteurer ausfindig zu machen.
Die Journalisten übersprangen jedoch die Suche und begaben sich eigenständig
ins pakistanisch-indische Grenzgebiet, um selbst den Beweis für das „Blaue
Gebirge“ zu erbringen. Man vermutet, sie kamen in einer Lawine um, stürzten in
eine Gletscherspalte oder wurden von einem Schneetiger gerissen.
Die 1960er Jahre werden innerhalb
des „Luzordens“ als „Heiliges Luzisches Jahrzehnt“ bezeichnet, da der Stein in
dieser Dekade besonders häufig auftauchte: 1961 konnte man ihn bei einer
sauerländischen Kleintier- und Geflügelmesse erblicken, als er zusammen mit
drei Eiern im Spontangelege der mehrfach preisgekrönten Henne „Burgunde“ erschien,
vor den Augen des verblüfften Publikums aber verschwand; 1963 behauptete
Walentina Wladimirowna Tereschkowa, die erste Frau im All, in einer
Funkübertragung aus ihrer Raumkapsel „Wostok 6“, ein winziger, bläulich
schimmernder Asteroid begleite ihren Flug durch die Unendlichkeit des
Universums (der Gesprächsmitschnitt wurde später vom KGB vernichtet, ebenso
äußerte sich Frau Tereschkowa nie wieder zu diesem Vorfall); während eines
Interviews für einen regionalen Radiosender in Phoenix, Arizona, erklärte der
Pensionär und Katastrophentourist Randall Mills, ein notorischer Schaulustiger,
er sei bei der Ermordung des Kennedy-Attentäters Lee Harvey Oswald durch den
Barbesitzer Jack Ruby zugegen gewesen und habe deutlich erkennen können, dass
aus Rubys Revolver im Moment des Schusses ein bläuliches Licht hervorblitzte,
aus dem eine Schnur bläulichen Lichts sich durch den Keller des Polizeigebäudes
von Dallas in Richtung Oswald aufspannte, und dass sich schließlich am Ende
dieser Schnur ein zweiter bläulicher Blitz in Oswalds Unterleib bohrte – auf
die Frage des Radiomoderators, warum man dieses Licht auf den Film- und
Fotoaufnahmen nicht sehen könne, antwortete Mills nur, dass Rubys Waffe und
Munition, vielleicht sogar Jack Ruby selbst, nicht von dieser Welt seien und
deshalb nicht mit irdischen Gerätschaften eingefangen werden könnten; 1967
erhielt der ecuadorianische Drogenbaron und Dichter zahlreicher erzkatholischer
Litaneien, Eufemiano Molina Molina (der sich selbst als „Eufemiano a Sancta
Clara“ bezeichnete, ein Name, den aber niemand benutzte; stattdessen nannte man
ihn „El Profesional“ oder „El Arquitecto“), einen Brief, in dem die Legende von
einer mystischen „Blauen Küche“ inmitten des Urwalds beschrieben wurde, in der
eine nicht näher bezeichnete körperlose Kraft unentwegt riesige Mengen reinen
Kokains produzieren würde, ein Kokain mit leichtem Stich ins Blau – als Beweis
der Existenz dieser Küche lag dem Schreiben ein winziger, bläulich schimmernder
Stein bei, der Eufemiano Molina Molinas Verstand aussetzen ließ und eine
beispiellose Suchaktion zur Folge hatte, bei der die Mitarbeiter des
Drogenbosses mehr als einhundertfünfzig Regenwalddörfer dem Erdboden
gleichmachten, deren Bewohner vertrieben, entführten oder ermordeten und
tausende Quadratkilometer Dschungelfläche niederbrannten, ehe sie nach zwei
Jahren mit der schlechten Nachricht zu Eufemiano Molina Molina zurückkehrten,
nicht ein Krümelchen Blauen Kokains gefunden zu haben; während des totalen
Stromausfalls von Istanbul im Jahre 1969 beobachteten unzählige Stadtbewohner
die Invasion ihrer dunklen Häuser und Wohnungen durch absonderliche Steine, die
allesamt von einem blauen Licht umgeben waren und aus dem Nichts auf den Boden
prasselten, gemächlich durch den Raum schwebten, sich in den Haaren und Kleidern
der Menschen verfingen, Fensterscheiben zerspringen ließen, verängstigten
Haustieren nachjagten, eigenartig flüsternde Geräusche machten, in Wirbeln aus
den Ofenrohren geblasen wurden, sich unter den Röcken der Frauen in Luft
auflösten oder zu kleinen, leuchtenden Haufen in den Zimmerecken sammelten –
als man zwei Stunden später den Strom wieder eingeschaltet hatte und nach und
nach die Lampen entzündet wurden, die Bewohner Istanbuls buchstäblich in ihre
Lebendigkeit zurückfanden, waren alle Steine, jeder einzelne, bereits längst
verschwunden.
So weit, so gut: Im Sommer 1973
plumpste der Stein „Luz“ vor die Mauern des Palastes von Rijeka, dem früheren
Fiume, und dort stolperte die angehende Ozeanologin Annepetra Löbau über ihn,
der das großzügige Josip-Broz-Tito-Wissenschaftsstipendium gestattete, für zwei
Semester an der hiesigen Universität zu studieren. Hier wollte sich die
Ostberlinerin eingehend mit der Küstenlandschaft der Kvarner-Bucht
beschäftigen, die in früherer, längst vergessener Zeit auch unter dem Namen
„Golfo del Quarnero“ bekannt war, denn nur dort, so ihre steile These, „würden
sich der sozialistische Mensch, das intelligente Land- und das weniger
intelligente Wassergetier auf Augenhöhe begegnen“, eine rätselhafte These, die
ihr von Professoren und Kommilitonen viel Hohn einbrachte, da Annepetra Löbau
sie niemals tiefgründiger ausführte, geschweige denn stichhaltige Beweise für
ihre Behauptung vorlegen konnte. Als sie den Stein „Luz“ entdeckte, hob sie ihn
auf, betrachtete ihn ausgiebig mit einem Blick, der Abscheu, Freude und
Hoffnungslosigkeit zugleich in sich barg, und trug ihn hinunter zum Meer wie
ein finsteres Ei, aus dem schon bald ein die Erde verzehrendes Reptil mit
weißen Augen und vollen Lippen schlüpfen würde. Annepetra Löbau stapfte ins
Wasser, und als die Wellen um ihre Hüfte schwappten, hielt sie inne und
streckte „Luz“ gen Himmel, stundenlang, ohne ein Wort zu sagen oder sich zu
regen. Als die Nacht hereinbrach, meldeten einige Fischer, die gerade von der
offenen See in den Hafen zurückkehrten (auf ihren flachen Booten zappelten
tausende winzige Fische), der Polizei von Rijeka, dass ein junges Mädchen im
Wasser stand, und dieses junge Mädchen, bei Tito!, sehe aus wie jemand, der
gerade gestorben sei, oder wie jemand, der, wenn er noch am Leben sei, in Kürze
eine gewaltige Dummheit begehen würde.
Während zwei Polizisten Annepetra
Löbau aus dem Wasser führten, sie in den Wagen setzten und mit ihr zur
örtlichen Nervenheilanstalt fuhren, wo die Studentin geschlagene vier Jahre
zubringen musste, ehe man sie als „symptomfrei“ in die DDR abschob, blieb Luka
Boŝković, Agent der Udba, dem jugoslawischen Staatsicherheitsdienst, am Strand
zurück, den Stein „Luz“ in beiden Händen haltend. Wäre von der verrückten
Deutschen eine größere Bedrohung für Ordnung und Frieden im Staat Jugoslawien
ausgegangen, so dachte Luka Boŝković, dann hätte er sich persönlich um das
Mädchen gekümmert, aber da sie eine ungefährliche verrückte Deutsche war,
sollten sich doch die Quacksalber im Irrenhaus von Rijeka mit ihrem Fall
befassen. Doch als Luka Boŝković den seltsamen, blauen Stein in seinen Händen
hin und her drehte, wurde ihm klar, dass er sich trotzdem die Hände schmutzig
gemacht hatte, auch wenn eine seiner vielfältigen Methoden zur
„Schadensbegrenzung“ gar nicht zum Einsatz gekommen war: Dieser beschissene,
nichtsnutzige Klumpen Fels hatte ihm die Handinnenflächen und die Finger
dunkelblau gefärbt. Panik erfasste Luka Boŝković. Er hätte den Stein einfach
ins Meer werfen oder einem der ahnungslosen Fischer schenken können mit der
Aufforderung, niemandem von der Schenkung zu erzählen, doch der Udba-Agent
glaubte felsenfest, dass er sich mit der Färbung seiner Hände einen grausamen,
unnachgiebigen Fluch eingefangen habe, der direkt vom Stein ausging und dessen
Ausmaße auf sein weiteres Leben nicht kalkulierbar seien. Also gab es für ihn,
den loyalen Streiter für die Erhaltung des Sozialismus in Südosteuropa, nur
eine einzige Möglichkeit: Der Stein musste das politische System wechseln, auf
die andere Seite des Eisernen Vorhangs verschwinden, dorthin, wo der
Kapitalismus die Menschen knechtete, eine, dem Verständnis eines Luka Boŝković
folgend, durchaus selbstgewählte Knechtschaft, in der ein fluchbeladener,
bläulich schimmernder, schwarzer Stein dem bereits geschehenen Unheil nicht
allzu viel hinzufügen konnte. Luka Boŝković setzte sich in seinen Wagen und
fuhr davon, durchquerte Slowenien und gelangte schließlich zu dem kleinen
Grenzübergang im Loibltunnel südlich der österreichischen Stadt Klagenfurt. Mit
vorgehaltener Pistole zwang er die österreichischen Grenzposten, einen kurzen
Dicken, der leicht angetrunken war, und einen langen Dürren mit dem Blick einer
Taube, ihn passieren zu lassen. Dem Dicken fielen sofort die dunkelblauen Hände
des Udba-Agenten auf, Hände, die nur der Teufel persönlich eingefärbt haben
konnte, also öffnete er schwitzend den Schlagbaum und winkte Luka Boŝković
hindurch. Der Udba-Agent fuhr noch einige Kilometer den Pass entlang, kam an
der Katholischen Pfarrkirche St. Leonhard vorbei, drehte um und parkte den
Wagen vor dem Portal. Er stieg aus und ging zur Kirche hinüber, den Stein „Luz“
in den Händen, rüttelte an der Tür, trat sie ein, ging durch den dunklen
Innenraum und legte den Stein auf den Altar. Dann kniete er davor nieder, mit
einer dunkelblauen Hand nach seiner Pistole greifend, die andere dunkelblaue
Hand an den geöffneten Mund gepresst. Dort begann der unbarmherzige Luka Boŝković
an seinem Handrücken zu nagen, riss mit den Schneidezähnen die Haut auf, biss
in das darunter liegende Fleisch und kaute auf den Sehnen. Speichel und Blut
liefen ihm den Unterarm hinunter. Dann feuerte er zweimal mit seiner Pistole:
mit der ersten Kugel auf den Heiligen Geist im Fenster (der keine Taube war und
kein Licht, sondern eine weiße Scheibe, zu Glas geronnene Milch), mit der
zweiten Kugel sich in den Kopf.
Am nächsten Morgen betrat Pfarrer
Friedrich Wilhelm Stutz die Kirche und entdeckte die Leiche des Luka Boŝković.
Er bekreuzigte sich und stieg über den Körper, um zum Altar zu gelangen. Dort
fasste er unter seine Soutane, wickelte den Stoff um den Stein und verließ die
Kirche wieder. Draußen warteten bereits alle einundzwanzig Mitglieder des
örtlichen Chapters eines in ganz Westeuropa verbreiteten Motorradclubs mit
Namen „Fomori MC“ auf ihren röhrenden Maschinen, darunter der Road Captain, der
Treasurer, der Sergeant-at-Arms, der Secretary, einige Prospects, einige
Hangarounds sowie vier Nomads –
und natürlich die Zwillingsbrüder Bronislaw und Bogumil Dialek, ihres Zeichens
Vice President und President des „FOMCAT“ („Fomori Motorcycle Club Alpine
Territory“), zwei dicke Männer mit langen, braunen Bärten, Sonnenbrillen und
schwarzen Motorradhelmen auf dem Kopf. Clubmitglied war außerdem ein Mann
namens Günther Brunnthaler, genannt „Bär“, der aber gar nicht wie ein Bär
aussah, sondern lang und dürr war und das Gesicht einer Taube besaß – als
Grenzschutzbeamter war er dabei gewesen, als der Udba-Agent Luka Boŝković nach
Österreich durchgewunken wurde, und hatte wenige Minuten später seinen
Clubpräsidenten verständigt, dass etwas Übles über die Grenze gekommen sei. Und
der Geistliche, der sich vor allem und jedem fürchtete, hatte den
Clubpräsidenten, mit dem er einstmals zur Schule gegangen war, verständigt,
nachdem er den unbekannten Wagen mit jugoslawischem Kennzeichnen vor seiner
Kirche hatte stehen sehen. Nun überreichte Pfarrer Stutz den Stein „Luz“ an
Bogumil Dialek, President des alpinen Chapters des Fomori MC, und als sich
President und Vice President auf ihre Maschinen schwangen und davonbrausten,
gefolgt von den anderen neunzehn Teufelskerlen, da flüsterte der Pfarrer: „So
fahrt mit Gott, ihr gottverfluchten Hunde.“
„Und jetzt, Bogumil?“ fragte Bronislaw
Dialek, Vice President des Fomori MC. Die stimmberechtigten Members, ohne
Prospects und Hangarounds, hatten sich im Versammlungsraum der „Höllischen
Zuflucht“ zusammengefunden, dem Clubhaus, das sich außerhalb von Klagenfurt am
Rande eines Waldes befand. Sie saßen um einen breiten Tisch herum, in dessen
Mitte der Stein „Luz“ lag, artig und schön.
„Was meinst du, Bronislaw?“ fragte
Bogumil Dialek, der President.
„Ich meine den Stein, Bogumil“,
sagte Bronislaw.
„Was ist denn damit, Bronislaw?“
fragte Bogumil.
„Was hat es mit ihm auf sich,
Bogumil?“ fragte Bronislaw.
„Er ist ein Zeichen, Bronislaw“,
sagte Bogumil.
Die anderen Members schwiegen und
starrten ihre beiden Oberhäupter an, die nebeneinander an der Spitze des
Tisches saßen und sich während ihres Gesprächs keines Blickes würdigten.
„Ein Zeichen, Bogumil? Wofür denn?“
fragte Bronislaw.
„Das weiß ich nicht, Bronislaw“,
sagte Bogumil.
Jemand hustete. Einem anderen
quietschte ein leiser Furz durch die Unterhose.
„Wie? Warum weißt du es nicht,
Bogumil?“ fragte Bronislaw, dem langsam heiß wurde.
„Ich weiß es nicht, Bronislaw. So
ist das eben“, sagte Bogumil.
Staubkörnchen wehten zärtlich in
dem durchs Fenster hereinfallenden Licht. Wildschweine grunzten von fern. Peter
„Pitti“ Haller, der Sergeant-at-Arms des Clubs, dachte an einen Adler mit
grünem Gefieder, an einen tosenden Wildbach, an eine junge Frau, die mit
ernstem Gesicht aus einem gigantischen Haufen Schaum herausguckte. Ein
Eichhörnchen fiel tot aus einer Tanne und machte ein leises Geräusch auf dem
Flachdach der „Höllischen Zuflucht“. Road Captain Lutger Wollberg, Spitzname
„Fünfter apokalyptischer Reiter“, hielt sich einen Moment lang für einen
einsamen, nackten Kirschkern in einer Wüste aus Eis. Der Wind ging ums Haus wie
ein Zauber.
„Mein Bruder“, sagte Bronislaw laut
und stand auf.
„Mein Bruder“, sagte Bogumil laut
und stand auf.
„Als Vice President des Fomori MC
Alpine Territory fordere ich dich auf: Gib mir den Stein“, sagte Bronislaw.
„Als President des Fomori MC Alpine
Territory fordere ich dich auf: Setz dich hin und halt die Fresse“, sagte
Bogumil.
Die anderen Members sahen sich
verstohlen in die Augen. Einige griffen sich an die Hosen, um sich zu kratzen
oder ihre Pistolen zu entsichern.
„Das Leben ist wie das Tote Meer“,
flüsterte der Treasurer des Clubs, Heiner Hagestolz, genannt „Diesel“, vor sich
hin. „Oder: Das Tote Meer ist wie das Leben. Ach, was weiß ich denn schon, ich
armer, armer Tropf.“
„Ein Zeichen, Bogumil“, sagte
Bronislaw, „ist etwas, das beachtet werden muss. Wenn es nicht beachtet wird,
ist es nichts wert. Hast du das nicht verstanden, Dummkopf?“
„Du, Bronislaw“, sagte Bogumil,
„kannst mich mal am Arsch lecken, hörst du?“
Bronislaw drehte sich zu Bogumil.
„Ich kann dich mal am Arsch
lecken?“ fragte Bronislaw.
Bogumil drehte sich zu Bronislaw.
„Ja, das kannst du gerne tun“,
sagte Bogumil.
Darauf folgte ein vollendetes
Blutbad, das nur zwei der im Raum anwesenden Personen überlebten, ein Blutbad,
bei dem neben allerhand Schusswaffen auch Baseballschläger, Peitschen, Stuhlbeine,
Äxte, ein Wikinger-Rundschild, Nunchakus, Säbel und Handgranaten zur Anwendung
kamen, ein Blutbad, bei dem zwei Wände des Clubhauses entzweigeschlagen wurden,
ein Blutbad, das der Gegend um die „Höllische Zuflucht“ noch Jahre später einen
leichten Gestank nach verbranntem Leder bescherte, ein Blutbad, das die Erde,
das Gras und die Steine rot färbte, ein Blutbad, bei dem im Zuge der Zerstörung
der Inneneinrichtung sämtliche Bier- und Schnapsvorräte in den Boden sickerten,
ein Blutbad, das unbeschreiblich bleiben muss und mit Worten nur angetastet
werden darf, da es aus Bildern bestand, furchtbaren, makellosen, heiligen
Bildern.
‚So ein Gemetzel habe ich noch nie
gesehen‘, musste sich der Bundesgendarm Helmut Kanter eingestehen. ‚Ich habe
noch nie, nein, niemals!, so ein übles Gemetzel gesehen. Dies ist das Haus des
Todes. Hier hat der Tod pompös Einzug gehalten, ein ausuferndes Bankett
veranstaltet, für das es keine Worte gibt, und ist mit Pauken und Trompeten
zurück in die Unterwelt gefahren. Dies ist sein Haus, sein unermessliches Haus,
sein unaussprechliches Haus.‘ So dachte Helmut Kanter, als er durch die drei
Räume der „Höllischen Zuflucht“ ging, drei Räume voller Körperteile, Blut,
Urin, Scheiße und Tränen. Im Versammlungsraum entdeckte er einen bläulich
schimmernden Stein auf einer von Axtschlägen malträtierten und mit Kotze und
matschigem Gehirn bekleckerten Tischplatte. Neugierig betrachtete Kanter den
Stein, sah sich nach den Kriminaltechnikern um, die im Moment jedoch draußen
standen, plauderten und rauchten, und steckte ihn in die Tasche seiner Uniform.
Als er aus der Tür trat (die es nicht mehr gab, denn die Tür war aus den Angeln
gehoben und aufs Dach geworfen worden), fuhren gerade die beiden Krankenwagen
ab, die die zwei Überlebenden nach Klagenfurt transportierten (ein schwer
verletzter Prospect namens Radi, der sich im Vorraum aufgehalten hatte und in
den Kühlschrank flüchten konnte, und Vice President Bronislaw Dialek, der
seinem Bruder Bogumil mit einer silbernen Sichel den Schädel gespalten hatte).
Helmut Kanter verabschiedete sich von allen Anwesenden (in Gedanken
verabschiedete er sich auch von den zerteilten und durchsiebten Toten), fuhr
ins Revier, machte sich einige Notizen zu einem Bericht, den er erst am
nächsten Tag verfassen würde, und fuhr nach Hause. Dort angekommen schenkte er
seiner sechzehnjährigen Tochter Renate den Stein, die nicht recht wusste, was
sie damit anfangen sollte und ihn in irgendeiner Ecke ihres Zimmers liegen
ließ.
Renate Kanter beachtete den Stein
„Luz“ nicht. Vielleicht hat ihr diese Ignoranz das Leben gerettet. Für etwa
fünfzehn Jahre befand sich der Stein in ihrem Besitz: eine Zeit lang lag er
arglos in einem Regal herum, diente der Hausziege „Persephone“, die auf dem
Grundstück der Kanters ein friedliches Dasein fristete, als Leckstein (jedoch
nur für kurze Zeit, da die Ziege alsbald begann, einfache Worte zu sprechen,
bläuliche Milch zu geben und innerhalb eines Jahres dreizehn Zicklein mit
menschlichen Augen gebar, ohne befruchtet worden zu sein), musste neben der
Haustür als Versteck des Ersatzschlüssels herhalten (ein Schlüssel, der immer
wieder wie von Zauberhand verschwand, nachdem ihn jemand unter den Stein gelegt
hatte), war mal Briefbeschwerer, Türstopper oder Fensterbrettzierde. Während
der Anwesenheit des „Luz“ in der Familie Kanter entwickelte Tochter Renate eine
überbordende Faszination für Computer und deren Programmierung und beschäftigte
sich inbrünstig mit den Überlegungen des britischen Mathematikers, Logikers und
Kryptoanalytikers Alan Turing, einem Vordenker auf dem Gebiet der „Künstlichen
Intelligenz“. Seit dem Erwachen dieses Interesses weigerte sich Renate, ihr
Elternhaus zu verlassen, ging nicht mehr zur Schule, zog in den Keller und
richtete sich dort eine Werkstatt samt Bibliothek ein, in der sie Dutzende
Computer miteinander verschaltete (und, wenn man so will, das Internet erfand)
und eine Vielzahl von Programmen für Buchhaltung, Text- und Bildverarbeitung,
die Speicherung und Archivierung größerer Datenmengen und die Erstellung von
Anagrammen, Pangrammen, Leipogrammen und Palindromen erschuf. Mitte der 1980er
Jahre begann sie sich für den Ersten, Zweiten und alle möglicherweise
nachfolgenden Weltkriege zu begeistern. In ihrer Bibliothek studierte sie den
Ablauf bedeutender Offensiven und Defensiven, die Biografien der großen
Kriegsherren, unzählige Strategien, Finten und Operationen, um schließlich ihre
beiden Vorlieben in einem Projekt zu vereinen, das ihren Weltruhm begründen
sollte: Sie programmierte ein strategisches, rundenbasiertes Computerspiel
namens „Renate Kanter’s Fight Or Wait until the Battle is Over!“, das eine
Schlacht mit mehreren tausend Infanteristen und Militärfahrzeugen minutiös
simulierte, speicherte das Spiel auf Diskette und bot es über eine
Zeitungsannonce für achthundert Schilling pro Stück zum Verkauf an. Das
Programm wurde zum Renner und zog eine ganze Reihe ähnlicher Titel nach sich,
die sich mal im Schauplatz, mal im historischen Hintergrund unterschieden, die
Spielmechanik jedoch nicht grundlegend änderten, vor allem in den USA zu
Verkaufsschlagern wurden und kampfeslustige Titel trugen wie „Renate Kanter’s
The Last Contingent“, „Renate Kanter’s Continents in Fire“, „Renate Kanter’s
The Tank with the Blue Eyes“, „Renate Kanter’s Rattattattattatt!“, „Renate Kanter’s
In the Name of Steel“, „Renate Kanter’s The Seven Blazing Seas“ und „Renate
Kanter’s Guns, Guns, Guns!“ Bis ins hohe Alter von 83 Jahren tat die stille,
freundliche Renate Kanter nichts anderes als diese Spiele zu programmieren, und
selbst ihr letztes Werk „Renate Kanter’s Heaven is a Quiet Place. Earth Not!“,
das sie wenige Wochen vor ihrem Tod fertigstellte, verschickte sie eigenhändig
an die Adressen ihrer zahlreichen Fans in aller Welt. Und „Luz“, der bläulich
schimmernde Stein mit der verwegenen Vergangenheit? Der war eines Tages vom
Grundstück der Familie Kanter verschwunden, ungesehen und still, und sollte nie
mehr nach Österreich zurückkehren.
Im November 1989 erhielt Marianne
Evita Blumenau, Chefredakteurin der Illustrierten „Das wahrhaftige Auge“, einer
Schwesternzeitschrift des Boulevardblattes „Bunter Superblitz“, einen Anruf. Am
anderen Ende der Leitung erzählte ihr eine verzerrte Stimme über Stunden hinweg
von einer Jahrhunderte alten, geheimen Gesellschaft, die einen großen Vorrat an
blauen Steinen besäße, Steinen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die den
Menschen das Glück oder den Tod oder beides auf einmal brächten. Diese
Gesellschaft, deren Namen der Anrufer nicht kannte, obwohl er sie während des
Gesprächs ab und zu „Gemeinschaft des Eises in der Dämmerung“ nannte (ein Name,
den er ihr wohl selbst verpasst hatte), würde seit dem Beginn des 20.
Jahrhunderts (vermutlich aber viel früher) ihre Steine überall auf der Welt
verteilen und aus wissenschaftlichem Interesse, eher aber aus teuflischer
Neugier beobachten, welche Auswirkungen diese Steine auf lebende Menschen
hätten. Der Anrufer sprach auch viel von sich selbst, behauptete, zu Fuß von
Großstadt zu Großstadt zu ziehen, in den Wäldern und Gebirgen zu leben und alle
Tiere für die besseren Lebewesen auf diesem Planeten zu halten, weil sie im
Gegensatz zu den Menschen frei von allen Zweifeln seien; außerdem sei er an
verschiedenen Orten unter den Bezeichnungen „Der Zeitreisende“, „Der Staubige“,
„Der Sandmensch“ oder „Der unverwüstliche Wanderer“ in der Bevölkerung bekannt,
und vielleicht habe sie, Marianne Evita Blumenau, ja schon von ihm gehört
(hatte Marianne Evita Blumenau, von Freunden, Liebhabern, Feinden und
Erzfeinden MEB genannt, nicht); und außerdem, das sei ja die Sensation!, habe
er in der Nähe von Klagenfurt solch einen Stein in seinen Besitz bringen
können, ein ganz erstaunliches Ding, mit dem man vielleicht sogar die
Veränderung von Zeit und Raum oder zumindest die Illusion dieser Veränderung
herbeiführen könne. Zum Schluss ließ er sich zu der Bemerkung herab, einzelne
Mitglieder der „Gemeinschaft des Eises in der Dämmerung“ würden sich stets in
der Nähe eines der Steine aufhalten, getarnt als Bekannte, Arbeitskollegen,
Nachbarn oder Familienmitglieder des aktuellen Besitzers, als Polizisten,
Handelsreisende, Lokalpolitiker, Krankenhausmitarbeiter, Pfarrer oder
Taxifahrer, Schattenmänner und Schattenfrauen, vielleicht sogar, Gott schütze
uns!, Schattenkinder, alles in allem eine unheimliche Bande von skrupellosen
Erkenntnissüchtigen, denen auf gar keinen Fall zu trauen sei, niemandem von
ihnen. Nachdem der Anrufer sich verabschiedet hatte (er benutzte dafür das
befremdliche Wort „Tschüsselchen!“), vergaß MEB ihn recht schnell, denn nur
Minuten später erhielt sie einen weiteren Anruf, diesmal von einem ihrer
Reporter, der ihr mitteilte, dass sich ein Mann namens Hansjürg Trilli an ihn
gewandt hatte, der von sich selbst behauptete, der einzige Parapsychologe und
Ufologe der gerade untergehenden DDR zu sein, und dieser Trilli sei wohl im
Besitz von Beweisen, die belegen, dass die SED-Regierung seit Jahrzehnten
Kontakte zu Außerirdischen pflege, insgesamt also eine weitaus gehaltvollere
Story für die Illustrierte „Das wahrhaftige Auge“, die sich als das ultimative
Leitmedium aller Grenzwissenschaftler, Verschwörungstheoretiker und
Alternativmediziner verstand.
An Bord des Nachtfluges Paris – New
York City am 4. April 1994 befand sich auch Herschell Brown, Sänger der
erfolgreichen Grunge-Band „The Immortal Office“, zusammen mit seiner Freundin
Violette McCornish, Schlagzeugerin bei den Punkrockern von „The Conquerors“.
Die gesamte Flugzeit über war Brown nervös, knisterte unermüdlich mit einer
Plastiktüte, und zwang einem anderen Passagier ein Gespräch auf, das sich in
etwa so abspielte:
Brown sagte: „Hallo.“
Der Passagier sagte: „Guten Abend.“
„Ich heiße Herschell Brown und bin
ein Musiker.“
„Ich bin der Zeitreisende, ein
Wanderer, der vor dem Staub flüchtet, der ihn einst verschlucken wird. Ich weiß
ja, ich weiß, dies ist mein Schicksal, aber ich will mich nicht fügen.“
„Wirklich? Waren Sie mal im
Mittelalter?“
„Nein.“
„Waren Sie mal in der Steinzeit?“
„Nein.“
„Schade. Haben Sie Luthers
Reformation erlebt? Den Prager Fenstersturz? Die Abschließung Japans? Den
Aufbruch in den Wilden Westen? Die Deutsche Reichsgründung? Die
Weltwirtschaftskrise?“
„Nein. Nichts davon habe ich selbst
erlebt, aber im Fernsehen habe ich Berichte über einige dieser Ereignisse
gesehen, gut gemachte Berichte, in denen erfahrene Schauspieler historisch
korrekte Kostüme trugen und sich genauso verhielten wie die Leute, die damals
lebten. Sehr beeindruckend und sehr lehrreich.“
„Dann sind Sie aber kein
Zeitreisender, sondern ein jämmerlicher Idiot, der keine Ahnung hat.“
„Wenn Sie meinen.“
„Waren Sie mal …?“
„Lassen Sie mich jetzt bitte in
Ruhe, ja? Sie haben mir gerade sehr weh getan.“
Des Weiteren beschimpfte Herschell
Brown den Flugkapitän als „Verbrecher“, „Muttersöhnchen“ und „Lump“, der
„unfähig“ sei, „ein Flugzeug zu fliegen“, forderte lauthals den Copiloten auf,
sofort das Steuer zu übernehmen, forderte sogar ein drei Reihen weiter vorn
sitzendes Kind auf, sofort das Steuer zu übernehmen, nervte das Bordpersonal
mit zahlreichen Bestellungen von Essen und Alkoholika, und irgendwann stierte
er fluchend und mit den Zähnen knirschend aus dem Fenster in die Nacht hinaus,
auf einen Punkt in der Ferne, den es nicht gab. Als Violette McCornish
erwachte, nachdem sie vor dem Flug zu viel White Russian getrunken und über
Stunden hinweg in ihr Nackenkissen geschnarcht hatte, und Brown liebevoll an
der Schulter berührte, sprang der Musiker auf, stolperte in den Gang und
öffnete die Klappe des Handgepäckfaches über ihren Köpfen. Dort lag, im
hintersten Winkel des Faches, ein Stein, schwarz mit bläulichem Schimmer, und Herschell
Brown drohte ihm mit dem Finger und sagte: „Lass mich bloß in Ruhe, du kleiner
Scheißer, ich lasse mir von dir doch nicht alles kaputtmachen, hörst du, hörst
du, ich sagte, du sollst mich in Ruhe lassen, hörst du, hörst du, du grausamer,
arroganter, winziger Scheißer du, ich hasse dich, jawohl, ich hasse dich, das
kannst du mir glauben, schau mich nicht so an, sag ich dir, schau mich bloß
nicht so an, hörst du, hörst du, hörst du mir überhaupt zu?“ Und dann presste
er die Fäuste an die Augen, und seine Stimme schlug in einen wehleidigen
Singsang um, doch die Sprache, die Brown benutzte, war nicht von dieser Welt,
und vielleicht war sie nicht einmal aus diesem Universum, und als er genug
geklagt hatte, beschloss er, Violette darum zu bitten, mit ihm auf der
Flugzeugtoilette zu vögeln, nicht weil er gerade Lust darauf bekommen hatte,
sondern weil er sich fürchtete, und er setzte sich wieder neben seine Freundin
und lächelte sie an, doch als Violette McCornish die Augen öffnete, da sah
Brown, dass ihre Augen zwei winzige schwarze, bläulich schimmernde Steine
waren, und er begann zu schreien, schrie sich die Seele aus dem Leib, und sein
Geschrei füllte den Kabinenraum wie ein heraufziehender Nebel, und endlich,
nach Minuten des hemmungslosen, verzweifelten Schreiens, sackte Herschell Brown
ohnmächtig in sich zusammen. Unbehelligt schoss die Maschine weiter durch die
Nacht, zehntausend Meter unter ihr die titanischen Wassermassen des Atlantiks,
das im Schlaf flüsternde Ungeheuer, absolut und unberechenbar und verschlossen
wie der Tod.
In den folgenden Jahren erlebte der
Musiker Herschell Brown sein Leben als einen unwiderstehlichen Sog, der ihn
mehr und mehr in den trockenen Abgrund des Alters und der Krankheit zog. Im
Januar 2008, die Band „The Immortal Office“ war längst vergessen, und Violette
Brown hatte ihren Nachnamen wieder in McCornish geändert und sich für die
illusorische Beständigkeit einer Schauspielkarriere entschieden, ließ sich der
alternde Rockstar auf eine lediglich wenige Tage, wenn nicht gar nur Stunden
währende Affäre mit Britney Spears ein. Nachdem die Polizei die verrückt
gewordene Popsängerin eines Nachts aus ihrer von Helikoptern, Feuerwehr- und
Krankenwagen belagerten Villa in Los Angeles, Kalifornien, holen musste, in der
sie sich mit ihren beiden Kindern verbarrikadiert hatte, entdeckten Experten
der Spurensicherung, drei grobschlächtige Kerle, die die ganze Zeit über
bösartige Witze rissen und sich völlig daneben benahmen, in ihrem Wandschrank
einen kleinen schwarzen Stein, der unnatürlich blau schimmerte, und steckten
ihn in eine durchsichtige Plastiktüte. Auf der Fahrt zurück zum Revier
entschieden sie sich jedoch gegen die Mühe, diesen blöden Felsklumpen als
Beweismittel (Wofür nur, Scheiße, wofür?) in ihren Bericht aufzunehmen. Als sie
an einem unbebauten Gelände vorbeikamen, das wie ein weitläufiges Grab inmitten
von niedrigen, schäbigen Häusern lag, warf einer von ihnen den Stein aus dem
geöffneten Autofenster, und sie fuhren kichernd davon, die Gesichter im Schein
der Straßenlaternen wie Masken, die eine unverständliche Tragödie zum Weinen
gebracht hatte.
Dort am Straßenrand fand ihn ein
Tourist, der nur unter dem Namen E. Rosenau bekannt ist, ein passionierter
Hobbygeologe und Steinesammler, und brachte ihn als Souvenir in seine Heimat,
das mit einer berauschenden Landschaft gesegnete deutsche Bundesland
Mecklenburg-Vorpommern. Dort ließ sich E. Rosenau bei seiner Landärztin Helena
Hainichen, die einen Patientenstamm von etwa 150 meist älteren Menschen besaß,
eine Bronchitis behandeln (ein weiteres Mitbringsel seiner Amerikareise). Den
Großteil der Patienten betreute Dr. Hainichen seit vielen Jahren – und einigen
hatte sie mehr als einmal tief ins Herz geblickt, weshalb sie in der Region
eine äußerst hohe Beliebtheit genoss. Nachdem E. Rosenau ihr eines Tages stolz
den Stein gezeigt hatte, befand die eigentlich gutmütige Dr. Hainichen noch am
selben Abend, dass es nun an der Zeit wäre, all ihre Patienten umzubringen.
Nach nur einem Jahr hatte sie weit über vierzig der arglosen Kranken in der
Landarztpraxis vergiftet, während intensiver Gesprächssitzungen zum Selbstmord
aufgefordert, ihnen zuhause aufgelauert und sie dort erschlagen oder in der
Nacht ihre Wohnhäuser angezündet sowie sich auf der Rückbank ihrer alten Autos
verborgen und ihnen in den Hinterkopf geschossen, ehe die Kriminalpolizei ihr
endlich auf die Schliche kam. Im darauffolgenden Prozess, den alle großen
europäischen Medien lustvoll begleiteten, erklärte eine Heerschar von
Gutachtern Dr. Hainichen einhellig für „schuldunfähig“, worauf die Verurteilte,
die während der Verhandlungen kein einziges Wort gesprochen und meist nur ein
wenig verwundert dreingeblickt hatte, alsbald in den Tiefen einer norddeutschen
Klinik für Forensische Psychiatrie verschwand.
Hinter vorgehaltener Hand wird noch
heute erzählt, dass sich der brave E. Rosenau (der dem Gewaltrausch seiner
Hausärztin nicht zum Opfer fiel) wenig später mit einigen mächtigen Männer in
der Region einließ, Angehörigen der Lokalpolitik und des Militärs sowie
einflussreichen Kulturschaffenden und Funktionären ansässiger
Wirtschaftsunternehmen, die, so munkelt man, ihm entweder ein ordentliches
Tauschgeschäft anboten, ihm ein gehöriges Schweigegeld zahlten oder ihn einfach
in der Ostsee versenkten. Jedenfalls verschwanden E. Rosenau und der vor
vielen, vielen Jahren auf den Namen „Luz“ getaufte, schwarze Stein mit dem
merkwürdig blauen Schimmer von der Bildfläche, als hätten sich beide, nach all
den Strapazen und Freuden in der Vergangenheit, in der von Langeweile und Kälte
geprägten Gegenwart aufgelöst, einfach aufgelöst, um dieser insgesamt doch
recht schrecklichen Welt ein für alle Mal fernzubleiben und erst zu ihr
zurückzukehren (aus Trotz oder Bosheit), wenn ihnen beiden, oder zumindest
einem von ihnen, der Zeitpunkt als geeignet erschien.
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