Donnerstag, 5. Mai 2011

Versuch, auch was zu sagen

Erst später habe ich meine Entscheidung entdeckt, in allem ein Geheimnis vermuten zu wollen. Material für diese allgemeine Entscheidung müssen besondere Wünsche gewesen sein, wie der Wunsch, mit den eigenen Armen zu fliegen oder mich an denen, die mich geärgert haben, magisch zu rächen. (Die Rache hätte dann vor allem in der Überraschung bestanden, die sie mir gegenüber hätten erleben und zugeben müssen. Sie wären sprachlos gewesen.) Schon länger wollte ich also wohl ein Geheimnis für mich; erst, indem ich es überall suchte, dann, langsam, in dem ich versuchte, es mir mit besonderen Mitteln selbst auszudenken, d.h. auf bekanntem Weg etwas Unbekanntes zu finden: ein Interesse an Technik und Naturwissenschaft, wenn so Erfindungen möglich wurden; am Umweltschutz, um mir eine andere Umgebung zu entwerfen (zum Beispiel Städte ohne Autos); an der Literatur, um Abenteuer zu erleben oder eins zu erzählen.

Ich habe dann nie eine neue Maschine erfunden oder ein Naturgesetz formuliert, ich bin kein Umweltschützer mehr, seit ich sechzehn war und die letzte Ausgabe unserer Umweltzeitung erschien. Es fällt mir bis heute schwer, etwas zu erzählen. Das sind alles Versäumnisse, Missverständnisse, die ich nicht schön reden will. Ich wollte eigentlich immer etwas anderes, als das, was ich wollte; und darum interessierte ich mich für vieles: Dinosaurier, Wale, Drachenbau, die Geschichte des Judentums, Landgewinnung, die Fische des Meeres, die englische Sprache, die französische Sprache, Kinderrechte, Kommunismus, Amerika, Windkraft, Theater, Politik, Pflanzen, Tiere, Demokratie, Berühmtheit, die Wahrheit über meine Familie, die spanische Sprache, Sexualität, Popmusik, Rockmusik, Pornographie, Melancholie. Aber ein Gedanke macht mich noch immer wütend: Dass ich etwas nicht mehr wollen soll oder umsonst gewollt habe. Dass, weil ich immer etwas anderes wollte, als an sich diese Themen und Gegenstände, meine Interesse für sie irgendwie unwahr würde. Weil es immer noch etwas anderes gab, das ich von ihnen wollte, als sie selbst.

Der Unterschied zwischen heute und früher ist vielleicht, dass ich gar nicht mehr wissen will, was ich immer will. Ich will nur erleben, dass ich überhaupt etwas wollen kann. Vielleicht ist es etwas anderes; vielleicht das, was ich schon habe.

Ich forderte also ein Geheimnis für mich; und die Literatur ist der Ort, den ich mir dafür ausgesucht habe - oder dachte, mir aussuchen zu können. Denn ich musste irgendwann feststellen, dass zu Schreiben (die Umstände des Schreibens und die Arbeit damit) mich immer wieder in die Realität zurückbrachte, sowohl meine eigene, als auch jede andere Realität, von denen am Ende keine einzige zu rechtfertigen ist. Ich brauchte sie, um etwas schreiben zu können, ich brauchte nicht viel dafür, aber doch genug, dass ich sie mir nicht einfach nehmen konnte, sondern sie auch noch ein bißchen besser verstehen musste.

Die Literatur erschöpft sich ja schnell. Man kann schon nicht immer lesen, und noch weniger ist es möglich, immer zu schreiben. Oder beides die ganze Zeit über auch zu genießen. Immer wieder kann ich schreiben und lesen und es genießen, aber der Genuss ist keine gute Zuflucht; und die Literatur, die gelesen wird oder geschrieben, kann keine Probleme überwinden, für die sie nicht selbst erst gesorgt hätte. Nicht einmal ihre eigenen Probleme - wie wird eine Geschichte erzählt und warum überhaupt eine? - kann sie aus sich selbst heraus lösen! Sie braucht immer noch etwas anderes und ich auch.

Wahrscheinlich brauchte oder brauche ich das Geheimnis noch immer dafür, um manche Dinge in meinem Leben zu einem Sinn zu verklären, der ihnen sonst fehlte: Langeweile, prinzipieller Optimismus (mit dem ich vor allem, was leichtfällt, auf die Klagen meiner Freunde über deren eigenes Leben reagiere). Dazu gehören auch meine Fluchtgedanken, der Wunsch, in eine andere Welt zu entkommen, den Blick abzuwenden, nicht zu sehen, was mich stört, die Auseinandersetzung zu vermeiden. Es fällt mir schwer, etwas schlecht zu finden, selbst wenn ich spüre, wie schlecht es ist.

In der Literatur wurde der Wunsch nach einem Geheimnis zu etwas Allgemeinem für mich. Ich konnte das Geheimnis überall finden, indem ich irgendetwas so aufschrieb, so dass es geheimnisvoll wurde, dass heißt zu etwas, dass ich - und andere - wollen (und akzeptieren) können. Von dem man sagen kann, es ist da, weil es ja verborgen ist, und etwas muss es ja geben, wenn es ein Geheimnis davon gibt. Insofern ist das Geheimnis, wie ich es beim Lesen erfahre, und das ich durch eigene Texte für andere wünschenswert machen will - ist das Geheimnis etwas, mit dem ich mir die Welt und das, was in ihr ist, erschließen kann (die Realität, von der ich also doch glaube, dass sie existiert, auch ohne mich, zu der ich aber gehöre), eine Lebensweise sogar, selbst wenn nur versuchsweise, halbverbindlich, in Texten.

Dass ich daran glaube, dass die Literatur mir wirklich etwas über die Welt sagen kann, liegt gerade an den Grenzen der Verzauberung durch das Geheimnis, die dafür nötig ist. Immer wieder zu spüren, wie alles zerbricht, wie eine Geschichte endet, die ich für wahr gehalten habe und wirklich, wie ein Sinn, den ich spürte, weil etwas Eindruck auf mich machte, in Zweifel umschlägt: Das ist der Moment, in dem ich spüre, dass das Schreiben zum Leben dazugehört und keinen Ausweg bietet, selbst wenn gerade dieser Ausweg das größte Versprechen ist, den mir das Schreiben macht, immer wieder.

Warum ist etwas schwierig? Für den Fall des Schreibens kann ich immerhin sagen: Weil der Genuss daran nicht voraussetzungslos ist; weil es immer irgendwann nicht mehr weitergeht und ich fragen muss, was dazu fehlt - im Schreiben, an der Literatur, aber das ist nur ein Beispiel. Ich denke, dass das, was mir schreibend an der Literatur fehlt, immer auch etwas ist, das ich anderswo vermisse - vielleicht, ohne dass ich es zugegeben will. Und wenn ich so, im Schreiben oder anders, auf das Gefühl für das stoße, was mir auch sonst fehlt, kann ich vielleicht auch zu wollen beginnen und zu finden versuchen, was ich brauche; und so finde ich vielleicht im Schreiben die Wünsche, die wirkliche Wünsche sind, die nicht von anderen Wünschen verdeckt sind, die ich mir jederzeit erfüllen kann, ohne dass mir daran etwas liegt.

Solche Wünsche sollen erfüllt werden. Niemand soll glauben müssen, dass ein Wunsch nur gut ist, solange er nicht in Erfüllung geht! Und das ist doch auch, was ein Geheimnis fordert - dass es im Geheinmis einen wirklichen Sinn gibt, der enthüllt wird, so wie es zu einem Wunsch dazugehört, dass er erfüllt wird. Natürlich reicht es nie; und ein Geheimnis, wenn es eines geben kann, erinnert ja auch daran: dass etwas fehlt, und nicht nur etwas Bestimmtes, sondern dass - solange es gutes Geheimnis ist - immer überhaupt noch etwas mehr fehlt, als ich dachte. Zugleich, denke ich aber, wenn es ein Geheimnis gibt, dass da auf jeden Fall etwas ist, was ich noch suchen kann. Etwas fehlt mir immer, solange ich lebe, und so ist immer noch irgendwo etwas zum Leben da.

1 Kommentar:

  1. Hannes -- ein super erster Satz, schöner Titel und überhaupt leuchtet mir alles gleich ein!
    Viele Grüße aus Ann Arbor!

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