Horn bei Hamburg, 1830: Hier kommen die Bauern vom Land in die Stadt. Mit ihren Körpern gehen sie zuerst im Schatten der Deiche, dann werden die Mützen sichtbar, dann kurz das Gesicht, bevor die heranrasenden Wolken mit neuer Dunkelheit die Einzelnen zur Menge verwischen.
Weiß ich denn,
wer sie sind?
Natürlich nicht,
nein.
Weiß ich, wie
weit sie gelaufen sind, durch das Land?
Nein, ich bin ja
von hier, und sie kommen aus ganz anderen Gegenden. Wo die her sind, da war ich
noch nie. Vielleicht kommen sie aus dem Königreich Hannover. Wenn aber in der
Zeitung etwas aus dem Königreich Hannover z.B. berichtet wurde, habe ich es
nicht gelesen. Ich habe nur die Berichte von hier gelesen. Wie es anderswo ist,
weiß ich nicht. Ob ich es wissen müsste, ist eine andere Frage. Die Bauern aber
müssen – da sie jetzt hier sind – sicher wissen, wie es hier ist: Sie sterben
sonst vielleicht an den unbekannten Verhältnissen.
Hier kann es
passieren, dass das Land plötzlich endet, denn im Land ist überall Wasser.
Gräben, Flüsse, Tiefen. Die Elbe als äußerster Horizont allen Wassers, solange
noch Land in Sicht ist.
Sieht der Bauer
das Wasser? Sieht der Bauer den Fluss?
1830: Die Bauern
sind frei. Der Staat sagt: Die Wirtschaftskraft der Bauern darf nicht durch Fronen
und Abgaben herabgesetzt werden. Der Grundherr ist in der Beweispflicht, dass die
Fron und die Abgabe notwendige Maßnahme ist. Es gilt der – widerlegliche – Grundsatz:
Der Bauer ist frei. Jetzt muss der
Bauer nur noch den Grundherren bezahlen, damit er von seiner Freiheit Gebrauch
machen darf.
Die Ablösungstilgungskassen helfen zum Teil.
Noch 1914 bis
1923 müssen einige Bauern ihre Schuld tilgen, aber da ist es nur noch eine
Formsache, weil das Geld, mit dem die Bauern bezahlen, durch die Inflation wertlos
geworden ist. 1830 aber bleibt die Ablösung auf Jahrzehnte belastend. 1830 geht
der Bauer als freier Mensch in die Stadt, drei Jahre später, 1833, müssen die
ersten Kinder der in die Stadt gekommenen Bauern aus der sozialen und
seelischen Verwahrlosung in den Armenvierteln befreit werden.
Sie kommen nach
Horn, ins Rauhe Haus. Hier wohnen und
leben sie jetzt. Hier werden sie auf ein Leben in Armut vorbereitet: durch
Arbeit, aber auch durch das Feiern von Festen. Ein neu befreites – oder gerettetes – Kind wird mit einem Fest
begrüßt, das zuvor sorgfältig vorbereitet worden ist. Die Kinder lernen ein Handwerk: die
Schusterei, die Tischlerei, die Schneiderei, die Drechslerei, die Spinnerei,
die Glaserei, die Malerei, die Druckerei. Die Landwirtschaft.
Die Arbeit im Rauhen
Haus wird nicht vom Staat bezahlt, sondern von der christlichen Gemeinde, das
heißt: vom Geld der Hamburger Kaufleute, die zuvor davon überzeugt werden
mussten, es zu zahlen. Das hat der 25-jährige evangelische Theologe Johann
Hinrich Wichern 1833 getan. Er stirbt dann 1881.
Über die Zeit
vor der Aufnahme in das Rauhe Haus sollen die Kinder schweigen, nur ihr
persönlicher Betreuer weiß etwas darüber.
So entsteht aus
dem Geheimnis eine neue Gemeinschaft – eine neue Gemeinschaft gegen die alte
Gemeinschaft, aus der die Kinder kommen, das heißt: gegen die
Elendsgemeinschaft der Proletarier, gegen die zerbrochene Großfamilie, gegen
das gemeinsame Dach im zuvor verlassenen Land.
Die neue
Gemeinschaft des Rauhen Hauses bleibt auch bestehen, wenn die Kinder zu ihren Herkunftsfamilien
zurückkehren. Die Kinder gehören ein
Leben lang zu der Gemeinschaft des Rauhen Hauses. Manche von ihnen werden
wieder Bauern und kehren zurück auf das Land, von wo ihre Eltern kamen.
Ich sehe nicht, wie sie
von hier fortgehen, sie gehen wohl einzeln und zu einer Zeit wahrscheinlich, zu
der wir alle noch schlafen. Sie gehen im Dunkeln fort.
Aber wenige Jahre
später kehren sie zurück, diesmal mit Fahnen, das ist das erste, was man jetzt
von ihnen sieht, die Fahnen über dem Deich, dann kommen ihre Waffen, dann erst
der einzelne Mensch. Er fordert die Befreiung. Der Staat, der seine Freiheit
festgestellt hatte, soll jetzt selbst ein freier Staat werden.
Da bin ich aber schon
weg, das heißt, davon habe ich nur gehört oder gelesen.
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