Montag, 15. November 2010

Mein Name ist Hans Offenbach. Ich bin, seit meiner Geburt, Gegenstand des sog. Börjeson-Forssman-Lehmann-Syndroms. Auf dem Weg zur Arbeit muss ich an vieles denken, die Gegenstände, die überall herumliegen, bemerke ich nicht: Münzen, Drahtzwillen, Zeitungsartikel, Visitenkarten, Ankündigungen für ein Musikfestival in der Ferropolis, blühende Ästchen, eben herniedergefallene Regentropfen auf dem grauen, unebenen Asphalt unserer Städte. (Pause.) Ich nehme den Telefonhörer ab. Im Norden der Stadt werden die Mülltonnen in die großen Müllwagen geleert, eine automatische Vorrichtung am hinteren Ende der Müllwagen hat es ermöglicht, ich frage mich... Es ist noch Schinken da, in meinem kleinen Kühlschrank. Ich lege den Hörer des Telefons zurück. Ein Briefträger schüttelt mit dem Kopf, ein Stern explodiert ganz still in seiner Galaxie 2,52 Millionen Lichtjahre entfernt, und ein kleiner fuchsartiger Hund, der eben durch die Anlage läuft, bellt nicht. Lange Zeit hatte es mir Spaß gemacht ,mit meinem gebrauchten Mercedes SL fast lautlos um die Kurven der Stadt zu fahren. Es gefiel mir, in großer Geschwindigkeit von meinem Auto aus in Ruhe die Stadt zu betrachten. Dann bog ich eines Morgens von der Zschocherschen Straße rechts in die Karl-Heine-Straße und sah eine Art Vogel auf einem Straßenschild vor einem dort ansässigen veganen Gastronomiebetrieb sitzen. Er bewegte sich nicht. Dann grub dieser Vogel plötzlich heftig mit seinem Schnabel in seinem eigenen Bauchgefieder herum und brachte einen Büschel hellen Flaums ans Licht. Und dann saß er wieder wie vorher, als sei er nicht lebendig, ein Vogel, eine Art Vogel aus Stein, nur das in der Spitze seines geschlossenen Schnabels nun die feinen Federchen eines Büschels Bauchgefieder in den Böen des ziehenden Sturmwindes flatterten. Es war mir, als würde dies nun niemals enden. Das alles sah ich und sah ich. Von dort, wo ich war. Ich sah es, von dort, wo ich war, dort aus meinem Gebrauchtwagen heraus, diesem schlimmen Kasten meines veruntreuten Lebens. Da verlor ich alle Lust an der Fahrerei und ging in Zukunft immer zu Fuß. Jetzt sah ich nichts mehr. Ich habe aber das Auto noch, meinen Mercedes SL; es steht bei uns in der Garage, und niemand benutzt es, nur meine Mutter, wenn sie zum Arzt muss. Vielleicht bekomme ich ja doch eines Tages Lust, selbst wieder damit zu fahren. (Pause.) Vor 700 Tagen war mein 62. Geburtstag.


Aus: Hannes Becker - Westliche Werte

1 Kommentar:

  1. Aber ich habe den Vogel mit dem im Wind und im Schnabel zitternden Bauchfederchen auch am nächsten und am übernächsten Tage gesehen, und, als Oskar Theo vor zwei Tagen auf die Welt kam, zitterte es noch immer - es hatte durch die Feierlichkeit dieser Stunde eine leise und goldene Feierlichkeit im Zittern bekommen, es stimmt, der Vogel blinzelte nicht, aber alles deutete darauf hin, dass auch Hans Offenbach es hätte sehen müssen, und aufgwacht wäre -hätte er nicht genau am selbigen Tage einen Umweg genommen, der ihn an einem Reh vorbeiführte, das aus einem trüben Papierkorb etwas ass; es entging Hans Offenbach, aber Oskar Theo war da und es entstanden neue Möglichkeiten.

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