Montag, 7. Januar 2013


Der Schriftsteller Klaus Rubín galt Zeit seines Lebens als Randnotiz der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. 1949 in Bad Godesberg geboren und aufgewachsen, begann Rubín ein Landwirtschaftsstudium an der Universität Bonn, das er nach drei Semestern abbrach. Bis Anfang der 1980er Jahre verdiente er sich seinen Lebensunterhalt mit zahlreichen Anstellungen, arbeitete u. a. als Gabelstaplerfahrer, Postbote, Bademeister, Erzieher, Hausangestellter, Museumswächter, Hilfslehrer, Reservist und Theaterkomparse. 1976 erschien im Verlag Günther Boll sein erstes Buch, „Die Nachtfliege“. Dieser nicht einmal hundert Seiten umfassende Roman war das einzige Werk Rubíns, das er unter seinem wirklichen Namen publizieren ließ, denn in den folgenden Jahren entwickelte er eine Reihe fiktiver Autorenpersönlichkeiten, in denen sich sein kurzes schriftstellerisches Schaffen schillernd auffächerte: Die erste Persönlichkeit, die ans Licht der Öffentlichkeit trat, war Ulrike Fetschau, eine Autorin der Studentenbewegung, die für kurze, analytische Prosastücke, essayistische Liebesgeschichten und politische Schriften verantwortlich zeichnete. Dann kam Sam Krauss hinzu, der mit seinen Kriminalminiaturen insbesondere im angloamerikanischen Raum für Aufsehen sorgte. Eine „Lyrik des Körpers, Hautgedichte, Drüsenverse, Wort gewordenes Fleisch“ verfasste ein Mann namens Doktor Marelli, begabter Internist und Sohn eines italienischen Gastarbeiters. Nik Nitro, wohl am ehesten dem Charakter Klaus Rubíns entsprechend, bewegte sich als Journalist in den zwielichtigen Milieus Westdeutschlands und schrieb eine Vielzahl emphatischer Reportagen aus der Drogen-, Boxer-, Stricher- und Rockerszene. Außerdem wird der seit dem Jahre 1991 verstummte Schriftsteller Bluud Malau ebenfalls zum Umfeld der Rubínschen Autorenfiguren hinzugezählt, obgleich die Literaturwissenschaft bisher noch keine schlagenden Beweise dafür hervorgebracht hat, dass es sich bei Malau tatsächlich um eine Erfindung Rubíns handelt – augenfällig ist jedoch, dass Malaus unvollendete „Trilogie des Weißen Berges“, die aus den beiden insgesamt siebentausend Seiten füllenden Romanen „Pappakappa“ und „Die Namen der Nacht“ besteht, zahlreiche Verknüpfungen mit dem literarischen Kosmos des Klaus Rubín und seiner Autorenpersönlichkeiten enthält. Die Werke von  Fetschau, Krauss, Marelli und Nitro erschienen in einem Zeitraum von zehn Jahren bei unterschiedlichen Verlagen in mehr oder weniger großen Auflagen. Rubín legte eine atemberaubende Produktivität an den Tag, um den Oeuvres seiner Autoren gerecht zu werden. Es gelang ihm sogar, mehrere komplexe Briefwechsel zwischen seinen Persönlichkeiten zu initiieren, in denen sich die vier Schriftsteller heillos in privaten Intrigen, Liebesgeständnissen, Verleumdungen und Missverständnissen verhedderten. Im Jahre 1987 veranstaltete das Germanistische Institut der Universität Bamberg einen kleinen Kongress, der die zahllosen augenscheinlichen Querverweise in den Texten der vier Autoren zueinander ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte – die Öffentlichkeit strafte die Germanisten jedoch mit kompletter Gleichgültigkeit, und es ist recht unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, dass Klaus Rubín als unerkannter Gasthörer dem Kongress beiwohnte. Er befand sich spätestens seit 1988 in Argentinien, wo er eine Gruppe junger drogensüchtiger Künstler um sich geschart hatte, mit denen er über Monate hinweg Raubzüge in den ländlichen Regionen durchführte, mal blutrauschende Gewaltakte, mal dilettantisch ausgeführte Verbrechen der Verzweiflung. Die gestohlenen Wertsachen wurden an Hehler verhökert, das Geld später in Buenos Aires großzügig verjubelt. Noch heute erzählen die Bauern der Pampa ihrem Nachwuchs die „Geschichte vom blutroten Wägelchen“, das eine Gruppe deutsch sprechender Geister mit weißen Gesichtern übers Land zieht, vollbeladen mit Wirbelsäulen, Brustkörben, Schädeln und Fleischstücken ungezogener Kinder, die an die Hungernden verschenkt werden. Am 3. September 1991 fand man Klaus Rubín leblos in einer schäbigen Kneipe am Rande der argentinischen Hauptstadt, im hintersten Winkel eines Toilettenraums. Laut Obduktionsbericht war er an einer Überdosis Heroin und Kokain verstorben, die Leiche zum Zeitpunkt des Fundes bereits sechs Tage tot.
                

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