Der Schriftsteller Klaus Rubín galt Zeit seines Lebens als Randnotiz der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. 1949 in Bad
Godesberg geboren und aufgewachsen, begann Rubín ein Landwirtschaftsstudium an
der Universität Bonn, das er nach drei Semestern abbrach. Bis Anfang der 1980er
Jahre verdiente er sich seinen Lebensunterhalt mit zahlreichen Anstellungen,
arbeitete u. a. als Gabelstaplerfahrer, Postbote, Bademeister, Erzieher,
Hausangestellter, Museumswächter, Hilfslehrer, Reservist und Theaterkomparse.
1976 erschien im Verlag Günther Boll sein erstes Buch, „Die Nachtfliege“.
Dieser nicht einmal hundert Seiten umfassende Roman war das einzige Werk Rubíns,
das er unter seinem wirklichen Namen publizieren ließ, denn in den folgenden
Jahren entwickelte er eine Reihe fiktiver Autorenpersönlichkeiten, in denen
sich sein kurzes schriftstellerisches Schaffen schillernd auffächerte: Die
erste Persönlichkeit, die ans Licht der Öffentlichkeit trat, war Ulrike
Fetschau, eine Autorin der Studentenbewegung, die für kurze, analytische
Prosastücke, essayistische Liebesgeschichten und politische Schriften
verantwortlich zeichnete. Dann kam Sam Krauss hinzu, der mit seinen
Kriminalminiaturen insbesondere im angloamerikanischen Raum für Aufsehen
sorgte. Eine „Lyrik des Körpers, Hautgedichte, Drüsenverse, Wort gewordenes
Fleisch“ verfasste ein Mann namens Doktor Marelli, begabter Internist und Sohn
eines italienischen Gastarbeiters. Nik Nitro, wohl am ehesten dem Charakter
Klaus Rubíns entsprechend, bewegte sich als Journalist in den zwielichtigen
Milieus Westdeutschlands und schrieb eine Vielzahl emphatischer Reportagen aus
der Drogen-, Boxer-, Stricher- und Rockerszene. Außerdem wird der seit dem
Jahre 1991 verstummte Schriftsteller Bluud Malau ebenfalls zum Umfeld der
Rubínschen Autorenfiguren hinzugezählt, obgleich die Literaturwissenschaft
bisher noch keine schlagenden Beweise dafür hervorgebracht hat, dass es sich
bei Malau tatsächlich um eine Erfindung Rubíns handelt – augenfällig ist jedoch, dass
Malaus unvollendete „Trilogie des Weißen Berges“, die aus den beiden insgesamt
siebentausend Seiten füllenden Romanen „Pappakappa“ und „Die Namen der Nacht“ besteht, zahlreiche Verknüpfungen mit dem literarischen Kosmos des Klaus Rubín
und seiner Autorenpersönlichkeiten enthält. Die Werke von Fetschau, Krauss, Marelli und Nitro
erschienen in einem Zeitraum von zehn Jahren bei unterschiedlichen Verlagen in
mehr oder weniger großen Auflagen. Rubín legte eine atemberaubende Produktivität
an den Tag, um den Oeuvres seiner Autoren gerecht zu werden. Es gelang ihm
sogar, mehrere komplexe Briefwechsel zwischen seinen Persönlichkeiten zu
initiieren, in denen sich die vier Schriftsteller heillos in privaten Intrigen,
Liebesgeständnissen, Verleumdungen und Missverständnissen verhedderten. Im Jahre
1987 veranstaltete das Germanistische Institut der Universität Bamberg einen
kleinen Kongress, der die zahllosen augenscheinlichen Querverweise in den
Texten der vier Autoren zueinander ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte – die
Öffentlichkeit strafte die Germanisten jedoch mit kompletter Gleichgültigkeit,
und es ist recht unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, dass Klaus Rubín als
unerkannter Gasthörer dem Kongress beiwohnte. Er befand sich spätestens seit
1988 in Argentinien, wo er eine Gruppe junger drogensüchtiger Künstler um sich
geschart hatte, mit denen er über Monate hinweg Raubzüge in den ländlichen
Regionen durchführte, mal blutrauschende Gewaltakte, mal dilettantisch
ausgeführte Verbrechen der Verzweiflung. Die gestohlenen Wertsachen wurden an
Hehler verhökert, das Geld später in Buenos Aires großzügig verjubelt. Noch heute erzählen die Bauern der Pampa ihrem Nachwuchs die „Geschichte vom blutroten Wägelchen“, das eine Gruppe deutsch sprechender Geister mit weißen Gesichtern übers Land zieht, vollbeladen mit Wirbelsäulen, Brustkörben, Schädeln und Fleischstücken ungezogener Kinder, die an die Hungernden verschenkt werden. Am 3.
September 1991 fand man Klaus Rubín leblos in einer schäbigen Kneipe am Rande der
argentinischen Hauptstadt, im hintersten Winkel eines Toilettenraums. Laut
Obduktionsbericht war er an einer Überdosis Heroin und Kokain verstorben, die
Leiche zum Zeitpunkt des Fundes bereits sechs Tage tot.
Montag, 7. Januar 2013
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