In meiner Stube sitzt ein Wandersmann. Wie er heißt, will er nicht sagen, ich glaube aus Angst, sich für immer nennbar zu machen. Sein Haar ist wirr, aber seine Rede glatt heraus. Er ist mager wie ein Hungerstreiker und stinkt noch schlimmer als der Iltis-Projektchor. Oh, wie er stinkt! Ein solch gewaltiger Gestank drang niemals nie an den Himmel heran.
Zuerst bat er mich um eine Scheibe Brot, welche er mit seinen Splitterlippen ringsherum bemümmelte, dann lieferte er mir den dramatischen Bericht seiner andauernden Wandersnot.
Er sei, sagte er, ein großer Verehrer des Großen Marschs, und habe, so fuhr er fort, am 2. September um 12Uhr in Cröchern, was sein urkundlich verbürgter Geburts- und Wohnort sei, losgemacht. Dank seines strengen Marschplans (er bewahrt ihn in der hinteren Hosentasche) habe er hoffen dürfen, Euch am 8. oder spätestens 9. September auf offenem Felde zu treffen. Das letzte Wegstück bis Berlin habe er mit Euch gemeinsam gehen wollen, als Euer schützend Geleit, Euer pferdloser Edelritter.
Doch sei er nicht so weit gekommen: Am dritten Tage beginnt sein Kompass viertelstündlich um 90° zu springen. Die Sonne, die eben noch vor ihm aufzugehen scheint, steht ihm ein Augenblinzeln später im Rücken. - Was soll er tun? Er beschließt, diese Prüfungen der Natur und der Technik zu ignorieren, zwei Tage hält er durch, dann widersetzt er sich den Empfehlungen seiner Hilfsmittel und schlägt den Weg ein, den sie ihm nicht weisen. Am neunten Tage ändert er abermals sein Vorgehen. Ich will, spricht er, jetzt wieder Vertrauen haben in meine Sonne und den Kompass. Aber die Landschaft wird immer bergiger und er selbst befindet sich in einem steten Bergauf. Am zwölften Tage fragt er die Menschen auf den Dörfern, was man tun müsse, um von hier fortzukommen. Er reißt eine junge Frau zu Boden und schreit: Die Berge!, schreit er, sind falsch!
Man jagt ihn davon, er meidet die Menschen. Er ruht bei Tag und wandert bei Nacht. Nur wenn es nicht mehr anders geht, klingelt er an einer Haustür und bittet um Brot, am liebsten mit Käse. Ob ich Käse hätte? Liebe Freunde, im Gegensatz zu ihm wisst Ihr um meine Käsereien. Ich gehe also in die Küche, der körperlich-versprengten Seele ein Stück König-Ludwig-Bierkäse vom Laib zu hobeln - - - als ich wiederkomme, ist der Stinker fort!
Mein Hab und Gut befindet sich an Ort und Stelle, bloß mein Diercke Weltatlas suchte ich vergebens. Liebe Freunde! Liebe Bewohner Berlins! Ein Mensch in Not ist auf dem Weg zu Euch! Dass er jemals fündig wird, das glaub ich kaum, denn mein Diercke hat ja noch die Mauer drin, trotzdem, ich bitt Euch, seid barmherzig, zündet täglich eine Leuchtrakete und dreht schon mal die Heizung hoch.
Brotrest mit Gebissabdruck
Vom Unbekannten unberührtes Käsestück
Lücke im Bücherregal von charakteristischer Breite
Die Spur führt nach Osten