Mittwoch, 30. Januar 2013

500 Jahre Appenzell (Das große Gespräch über die Zukunft IX)


Schlacht am Stoss 
1405
Felsblöcke Hellebarden
Äußere Macht
Innerer Niedergang 
wie einst 

am Vögelinsegg
1403
nur der Gewalt, nicht dem Rechte zugetan
am zugewandten Ort
Acht alte Orte nur

Untertanengebiete 
hier
Gemeine Herrschaft

Bruder Klaus, Schutzpatron der Schweiz, 
ich bin 
auf guter Freunde Rat
hierher zu dir gekommen,
um zu fragen:

Wohin geht die Welt?
Was ist geheim?
Wie geht es meinen Lieben?
Wo ist die Schweiz?

Das große Gespräch über die Zukunft VIII







"'Vater und Sohn' war Ende Februar 1929 ein Programm der Berliner Funkstunde überschrieben. Alfred und sein 14-jähriger Sohn Wolfgang unterhielten sich vor dem Mikrofon. Worüber sie wohl geredet haben? Es gibt die verbürgte Behauptung: über Gott. Außerdem, so nach Presseberichten, über alles andere auch."

Wilfried F. Schoeller: Döblin. Eine Biographie, S. 318

Montag, 28. Januar 2013




Er sitzt da
und singt sein schreckliches Lied.

Montag, 21. Januar 2013

Vorgestern


Rostig
nach einer Kehlkopfoperation
ohne zu läuten oder zu klopfen
noch immer

ein Geheimtipp

Vergangenheit allein
was Gegenwart
geblieben ist
was so wehgetan hat

Ein neues Glück
Ein neues Glück

Donnerstag, 10. Januar 2013

Die Erfindung der Moral (Vorgriff)





1.                Die Todsünde Trägheit (des Herzens)



Der Dozent am Ende seiner Vorlesung:

"Und das ist meine Bitte an Sie: Wissen Sie nichts. 
Arbeiten Sie mit Ihren Zweifeln. Ihrer Unsicherheit. 
Denn außerhalb der Grenzen des Sozialen liegt in 
der Gewissheit kein Fortschritt.“




Montag, 7. Januar 2013


Der Schriftsteller Klaus Rubín galt Zeit seines Lebens als Randnotiz der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. 1949 in Bad Godesberg geboren und aufgewachsen, begann Rubín ein Landwirtschaftsstudium an der Universität Bonn, das er nach drei Semestern abbrach. Bis Anfang der 1980er Jahre verdiente er sich seinen Lebensunterhalt mit zahlreichen Anstellungen, arbeitete u. a. als Gabelstaplerfahrer, Postbote, Bademeister, Erzieher, Hausangestellter, Museumswächter, Hilfslehrer, Reservist und Theaterkomparse. 1976 erschien im Verlag Günther Boll sein erstes Buch, „Die Nachtfliege“. Dieser nicht einmal hundert Seiten umfassende Roman war das einzige Werk Rubíns, das er unter seinem wirklichen Namen publizieren ließ, denn in den folgenden Jahren entwickelte er eine Reihe fiktiver Autorenpersönlichkeiten, in denen sich sein kurzes schriftstellerisches Schaffen schillernd auffächerte: Die erste Persönlichkeit, die ans Licht der Öffentlichkeit trat, war Ulrike Fetschau, eine Autorin der Studentenbewegung, die für kurze, analytische Prosastücke, essayistische Liebesgeschichten und politische Schriften verantwortlich zeichnete. Dann kam Sam Krauss hinzu, der mit seinen Kriminalminiaturen insbesondere im angloamerikanischen Raum für Aufsehen sorgte. Eine „Lyrik des Körpers, Hautgedichte, Drüsenverse, Wort gewordenes Fleisch“ verfasste ein Mann namens Doktor Marelli, begabter Internist und Sohn eines italienischen Gastarbeiters. Nik Nitro, wohl am ehesten dem Charakter Klaus Rubíns entsprechend, bewegte sich als Journalist in den zwielichtigen Milieus Westdeutschlands und schrieb eine Vielzahl emphatischer Reportagen aus der Drogen-, Boxer-, Stricher- und Rockerszene. Außerdem wird der seit dem Jahre 1991 verstummte Schriftsteller Bluud Malau ebenfalls zum Umfeld der Rubínschen Autorenfiguren hinzugezählt, obgleich die Literaturwissenschaft bisher noch keine schlagenden Beweise dafür hervorgebracht hat, dass es sich bei Malau tatsächlich um eine Erfindung Rubíns handelt – augenfällig ist jedoch, dass Malaus unvollendete „Trilogie des Weißen Berges“, die aus den beiden insgesamt siebentausend Seiten füllenden Romanen „Pappakappa“ und „Die Namen der Nacht“ besteht, zahlreiche Verknüpfungen mit dem literarischen Kosmos des Klaus Rubín und seiner Autorenpersönlichkeiten enthält. Die Werke von  Fetschau, Krauss, Marelli und Nitro erschienen in einem Zeitraum von zehn Jahren bei unterschiedlichen Verlagen in mehr oder weniger großen Auflagen. Rubín legte eine atemberaubende Produktivität an den Tag, um den Oeuvres seiner Autoren gerecht zu werden. Es gelang ihm sogar, mehrere komplexe Briefwechsel zwischen seinen Persönlichkeiten zu initiieren, in denen sich die vier Schriftsteller heillos in privaten Intrigen, Liebesgeständnissen, Verleumdungen und Missverständnissen verhedderten. Im Jahre 1987 veranstaltete das Germanistische Institut der Universität Bamberg einen kleinen Kongress, der die zahllosen augenscheinlichen Querverweise in den Texten der vier Autoren zueinander ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte – die Öffentlichkeit strafte die Germanisten jedoch mit kompletter Gleichgültigkeit, und es ist recht unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, dass Klaus Rubín als unerkannter Gasthörer dem Kongress beiwohnte. Er befand sich spätestens seit 1988 in Argentinien, wo er eine Gruppe junger drogensüchtiger Künstler um sich geschart hatte, mit denen er über Monate hinweg Raubzüge in den ländlichen Regionen durchführte, mal blutrauschende Gewaltakte, mal dilettantisch ausgeführte Verbrechen der Verzweiflung. Die gestohlenen Wertsachen wurden an Hehler verhökert, das Geld später in Buenos Aires großzügig verjubelt. Noch heute erzählen die Bauern der Pampa ihrem Nachwuchs die „Geschichte vom blutroten Wägelchen“, das eine Gruppe deutsch sprechender Geister mit weißen Gesichtern übers Land zieht, vollbeladen mit Wirbelsäulen, Brustkörben, Schädeln und Fleischstücken ungezogener Kinder, die an die Hungernden verschenkt werden. Am 3. September 1991 fand man Klaus Rubín leblos in einer schäbigen Kneipe am Rande der argentinischen Hauptstadt, im hintersten Winkel eines Toilettenraums. Laut Obduktionsbericht war er an einer Überdosis Heroin und Kokain verstorben, die Leiche zum Zeitpunkt des Fundes bereits sechs Tage tot.
                

Dienstag, 1. Januar 2013


Das Jahr 2013 begann hingegen so: dass ich am 1. Januar gegen fünf Uhr morgens aufwachte, als draussen eine Frau schrie, dass die Frau schrie nein, nein, begann also so, dass ich aufstand und erst aus dem falschen Fenster, das nämlich den Platz überblickt, schaute und keinen Menschen sah, aber weiterhin schrie die Frau ganz in der Nähe, so dass ich auch noch aus dem zweiten Fenster schaute, das der relativ steil abfallenden Einfahrt in die Strasse zugewendet ist, dort sah ich die Frau, die schrie oder vielmehr eine Gestalt, die auf der Strasse lag, sie trug einen schwarzen Wintermantel mit einem Gürtel um die Taille, so viel erkannte ich, es war noch nicht hell geworden, auf ihr kniete ein Mann, den ich nur von hinten sah, er packte die Frau dann an ihren Armen und zog sie, die auf dem Asphalt lag, in die Richtung des Platzes am unteren Ende der Einfahrt, es schien ihn keine grosse Anstrengung zu kosten, er hob ihren Körper dann leicht vom Boden auf und drückte sie gegen eine der Betonstufen, die den Platz umgaben, der Kopf und der Rücken der Frau lagen nun auf dieser Stufe, ihr Körper stark rückwärts gebeugt, der Mann schien sich mit grossem Gewicht auf ihren Brustkorb zu stützen, die Frau schrie, nein, nein, versuchte ihr Becken in die Luft zu stemmen, um nicht gegen die Kante der Betonstufe gedrückt zu werden, der Mann, der eine Kopfbedeckung und eine helle Hose trug, liess von ihr ab und schrie, als die Frau versuchte aufzustehen, stiess er sie mit beiden Händen gegen die Brust, so dass sie wieder auf die Stufe fiel, ich hatte das Fenster geöffnet, einige Fussgänger gingen am oberen Ende der Einfahrt vorbei, nur dunkle Umrisse, die Frau entwischte und rannte auf das steile Strassenstück zu, aber der Mann hatte sie mit wenigen Schritten eingeholt, der Mann schrie, die Frau lag vor ihm auf dem Asphalt und schütze mit den Händen ihr Gesicht, der Mann sagte einen letzten Satz und wandte sich dann plötzlich ab, folgte dem Strassenverlauf mit schnellen Schritten, die Frau blieb einen Augenblick lang liegen, dann stand sie auf, sie nahm ihre Tasche, die ich erst jetzt überhaupt sah und rannte die Einfahrt hoch, so schnell, schien mir, wie sie konnte und bog links in die Hauptstrasse ein, ich ging zum zweiten Fenster, das den Platz und den weiteren Strassenverlauf überblickte und sah den Mann, der sich erst noch entfernte, aber dann plötzlich kehrt machte, er kam langsam auf den Platz zu und erst als er den Platz und die Einfahrt wieder überblickte und erkannte, dass die Frau verschwunden war, dass die Frau wider Erwarten nicht auf ihn gewartet hatte, begann er zu rennen, er rannte in hohem Tempo die Einfahrt hoch und verschwand ebenfalls auf der Hauptstrasse. Nur einen Moment später hörte ich eine Stimme, die in einiger Entfernung wiederholt Abre la puerta rief, ich war mir aber nicht sicher, ob es sich bei der Stimme um diejenige der Frau handelte.

Das Jahr der immensen Verehrung der Stimme Gertrude Steins ist angebrochen