Dienstag, 12. März 2013



Die Landschaften Appenzells im Jahre 1513


Langsam hebt der Tyrannosaurus rex seinen klobigen Kopf und schaut über den Rand des künstlichen Wassergrabens. In der Ferne, nicht weit von Steinegg, heuen die Bauern. Ein Pterodactylus stürzt die Saxer Lücke hinunter, breitet die Schwingen aus und segelt mit dem Licht der Mittagssonne von den Bergen hinab ins Tal. Dort sitzen einige Anhänger der SVP im Eiscafé und fürchten sich vor den Ausländern. Ein Motorrad mit Beiwagen knattert über die Weide. Der Tyrannosaurus rex öffnet das Maul, schmatzt und zwinkert, dann senkt sich sein Kopf in den Graben zurück, wo sich das liebe Tier ein weiteres Mal am kühlen, klingelnden Sprudeln des Bächleins gütlich tut.

In einem dichten Dornwald bei Urnäsch verbirgt sich eine flache, pilzartige Kreatur, deren tausend Fangarme sich bei Vollmond, so sagt man, aus dem Unterholz winden. Die Bewohner der umliegenden Weiler, deren Häuser, Scheunen und Mühlen sich in den hellen Nächten schwarz wie Grabsteine gegen den funkelnden Sternenhimmel abzeichnen, pflegen alle Türen und Fenster fest zu verschließen, bevor die breiten Wolken das weiße, satte Strahlen des Mondes freigeben. Manchen deutschen Wanderer, Handelsreisenden oder betrunkenen Wirrkopf, der sich zur gottlosen Stunde zwischen den Dörfern herumtrieb, verfolgten die Tentakel bis hinter Meistersrüte. Spätestens dort, glaubt man dem Volksmund, drangen die bleichen, feuchten Spitzen der Fangarme in die Körperöffnungen dieser armen Teufel ein, pumpten ein ätzendes Sekret in ihre Gedärme und ließen die wimmernde, zitternde Hülle Mensch zu Füßen eines mit Efeu umflorten Hügelgrabes, im bloßliegenden Wurzelwerk eines Mahagonibaums oder am Ufer eines grünlich blubbernden Weihers zurück. Alle Jahre wieder tauchen unbekannte, blasse Kinder mit schwarzen Augen und blutigen Hasenscharten vor den Türen der Kolonialwarenläden und Amtsstuben der Dörfer auf, versuchen zornig, sich verständlich zu machen, gleichwohl ihr Gekrächze niemand versteht, und verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Die Große Verwüstung liegt zwischen Schwendbach und Seealpsee. Ihre Ausmaße umfassen nur wenige Hektar und doch hat sich ihr furchterregendes, summendes Wesen tief in die Herzen aller Schweizer, Burgunder, Vaduzer und Vorarlberger gegraben. Ihre Entstehung ist unbekannt, genauso wie ihr Nutzen. Die Große Verwüstung ist eine farblose Fläche. Rundherum steht dunkel das Alpsteinmassiv und duldet schweigend und ohnmächtig diesen entsetzlichen Ort. Kein Tier, keine Pflanze lebt hier, nicht einmal schwarze Käfer oder fahles Unkraut. Betritt ein Mensch, so ist in den Broschüren der örtlichen Kurverwaltung zu lesen, die Große Verwüstung, ist er Herr und Gebieter über seine ihm zur Verfügung stehende Zeit. Stundenlang wird er reglos ausharren und keinen Ton machen können. Ein anderer verschwindet innerhalb eines Augenblicks, und die Kantonspolizei spürt ihn am Ende des Tages in einer nahen Beiz auf, ahnungslos am Kamin sitzend, einen Krug Milch in der Hand. Ein dritter erblickt von hier vielleicht die finstere Unendlichkeit des Alls, die Geometrie der Leere, die Küsten Dänemarks im Jahre 4323, das goldene Bollwerk in den Wolken, den vom Gehäuse befreiten Kern, die kalten Wüsten des Mars, das graue Gesicht eines schwatzenden Toten oder das blühende Netzwerk, das alles mit allem verbindet. Der Eintritt beträgt siebzehn Franken und wird von Mitarbeitern der örtlichen Kurverwaltung eingezogen.

Der Schweizer Ozean zählt zu den Sieben Weltmeeren und bildet die südöstliche Grenze des Kantons Appenzell. Seine Wasser sind fischreich, der Meeresboden mit Korallen und spanischen Galeonen bedeckt, an den windumtosten Gestaden brüten federlose Möwen und bepelzte Schildkröten. Im Jahre 1513 entstehen die Wurzeln der heutigen Kreuzfahrtindustrie: Einzelne riesige Schiffe, auf denen die Berner, Zürcher und Genfer Patrizier mit ihren Familien das Wochenende verbringen, durchpflügen die wogende Weite des Ozeans, schwimmende Schlösser aus Holz, das Schweizerkreuz knattert im salzigen Wind. Die Spelunke „Hinkende Jungfrau“ im Hafendörfchen Brülisau ist berüchtigt dafür, Piratenkapitänen und ihrem wilden Gefolge Unterschlupf zu gewähren. Perlentaucher aus Osteuropa verdingen sich weit unterhalb der Mindestlohngrenze. Nach Stürmen lassen sich oft die stinkenden Überreste von Riesenkalmaren am Strand finden. Die Küstenbewohner besitzen eine Haut, die wie Bronze schimmert, flechten sich lebendige Seesterne ins Haar und zimmern aus Treibgut, Walblubber und Palmholz die absonderlichsten Dinge, Möbelstücke, Küchengeräte, Trödel, Devotionalien, die einen starken Einfluss auf die Entstehung des Schweizer Konstruktivismus ausübten. Ihre Gesellschaft ist streng matriarchalisch organisiert, die Männer werden, wenn sie alt geworden sind, mit einem kleinen Kahn hinaus auf See geschickt, um zu sterben. Beim alljährlichen Fest zu Ehren des untergegangenen Paramapuku, des letzten von geflohenen Sklaven gegründeten Königreichs in Europa, finden sie sich in Gruppen am Strand zusammen, zünden gefangene Schildkröten an und blasen mit aller Kraft durch ausgehöhlte Walknochen, worauf ein intensives Vibrato die gesamte Küste entlang erschallt, das bei ungeübten Zuhörern temporäre Kaltherzigkeit, Euphorie bis zum Wahnsinn oder plötzliches Koten hervorrufen kann. 

Die U-Bahn des Hauptortes Appenzell ist seit jeher ein Hort der vergessenen Dichter, der Königinnen und Könige der Unterwelt und der Anhänger aussichtsloser Revolutionen. Im Jahre 1513 fräsen sich die Tunnel bereits bis in den Tessin hinunter. Niemand weiß genau, wohin die silbernen, führerlosen Züge überall fahren. Beim Rest der Bevölkerung sind die düsteren, schmutzigen Wartesäle, die zerschlitzten Polster der Sitzbänke, die aufgebrochenen Snackautomaten und der drückende Gestank des Todes, der aus den Schächten weht, nicht sehr beliebt. Seit annähernd 550 Jahren bemüht sich die Initiative „Die U-Bahn gehört uns!“, den Ruf des Appenzeller Nah- und Fernverkehrs zu verbessern. Trotz aller Anstrengungen gedeiht auf den zahlreichen Linien die Kriminalität: Drogen- und Organhändler reisen bevorzugt zwischen Appenzell und Zürich, die Taschen voll mit Waren oder zerknüllten Frankenscheinen. Die Linie Appenzell-Innsbruck wird von einem Zug befahren, der komplett für den Betrieb eines illegalen Bordells benutzt wird. Die Bahn, die im Zweistundentakt nach Augsburg unterwegs ist, wird ständig von paramilitärischen Banden gewaltsam angehalten, den wenigen Fahrgästen raubt man alles Hab und Gut, sogar Entführungen sollen bereits mehrfach stattgefunden haben. Auf der Linie Appenzell-Genf blüht der Handel mit raubkopierten Filmen und Serien, exotischen Tierarten, gestohlener Kunst, Kreditkartendaten und gefälschten Ausweisen. Auch sind in den meisten Stationen die Rolltreppen kaputt.

Die kreischenden Wiesen!
Die Seilbahnstation, die der mächtige Säntis wie ein albernes Hütchen trägt!
Die sittsamen Wasser der Bergseen, in denen das Grauen sich verbirgt!
Die Unzufriedenheit der Appenzeller Sennenhunde mit ihrer Situation!
Das zur Sömmerung gezwungene Braunvieh!
Der leuchtende Käse!
Die Tränen der Berge!
Der fröhliche Säckelmeister!
Die schaurigen Skipisten!
Das Seufzen der Kantonalbank!
Der flammende Schniedelwutz des schwarzen Bären!
Die lachenden Täler!
Der Langsamverkehr! Der Langsamverkehr!
Die schwachsinnige Sonne!
Carlo!
Das Frauenstimmrecht! Das Frauenstimmrecht!
Die singende Grenze!
Das Veloland! Das Skatingland! Das Kanuland! Das Mountainbikeland!
Die Willensnation! Die Willensnation!
Der listige Bergmolch!
Ueli!
Hopp!
Hopp!
Hopp!

Am Abend kommt eine Giraffenherde von der Alp ins Tal zurück. Auf dem Hof spielen Kinder mit Holzfiguren, die Laserstrahlen verschießen können, die auf der Haut zwicken. Die Sonne zerbricht auf den Zacken der Berge. Liechtenstein wird von deutschen Truppen in Sekundenschnelle überrannt. Ein Rööschti springt aus der Pfanne, sagt „Tschau!“ und geht hinaus in die Dunkelheit. Die Kirchturmuhr läutet eine halbe Minute zu spät. Friedrich Dürrenmatt ruft bei der Post an und fragt, wann sein Paket endlich komme, auf das er seit Tagen warte. Am CERN erschafft der Teilchenbeschleuniger ein Schwarzes Loch, das den diensthabenden Wissenschaftler einsaugt und hinter der Hundwiler Höhi wieder ausspuckt. Jemand schiebt sich eine Wurststulle in den Mund und denkt, kurz bevor der „Tatort“ anfängt, über die Wiedervereinigung von Außer- und Innerrhoden nach. Ein Computer piept. Das Jahr 1513 wird auch vorübergehen.

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